Internet – Segen oder Fluch
Zeitrafferaufnahmen visuell auf und wurde als cineastischer Aufschrei der Zivilisationskritik empfunden. Heute wirkt er meditativ und kann am Sonntagmorgen in jeder Chill-out-Area gezeigt werden. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass man beim Fernsehen nicht vor Anspannung zittern muss, weil man beim Sehen eines Kanals gleichzeitig vierzig andere verpasst. Angeblich soll der Pulsschlag eines Fernsehenden sogar den Puls eines Schlafenden unterschreiten – Tiefenentspannung mit Hilfe eines Apparates, der in den 1990 er Jahren mit MTV und seinen schnellen Schnitten als Altar der Hektik galt.
Auch die von Conrad Leontorius bemängelte Hetze des Buchdrucks kommt nicht erst seit dem Internet als Fanal der Bedächtigkeit daher. Neil Postman argumentierte in seinem kulturpessimistischen Sachbuchhit «Wir amüsieren uns zu Tode» 1985 gegen das Fernsehen: «Wir haben es heute mit dem raschen Zerfall der Grundlagen einer Bildung, in deren Mittelpunkt das langsame gedruckte Wort stand, und mit dem ebenso raschen Aufstieg einer neuen Bildung zu tun, die auf dem lichtgeschwinden elektronischen Bild beruht.» Das gedruckte Buch brauchte noch 500 Jahre von «Hetze» bis «langsam», Musikfernsehen brauchte fünfzehn Jahre, vermutlich wirkt ein durchschnittlicher Twitter-Hagel schon in ein paar Monaten geradezu erstarrt. Sogar die Entschleunigung beschleunigt sich.
Einige Erklärungsmodelle zur Beschleunigungsdebatte lassen vermuten, dass hier ein Stellvertreterkrieg ausgefochten wird. Hinter der Klage, dass irgendetwas schneller oder gleichzeitiger passiert als früher, stecken womöglich ganz andere Probleme und Veränderungen. Die Soziologin Nicola Green weist zum Beispiel darauf hin, dass sich die Organisation privater wie beruflicher Aktivitäten gewandelt hat: Früher waren unsere Beschäftigungen stark nach Orten sortiert, man hatte eine Telefonnummer für Privates und eine für Geschäftliches, Arbeit fand am Arbeitsplatz statt und Freizeit woanders. Das hat sich erst vor kurzer Zeit geändert. Das häufig geäußerte Unbehagen könnte daher rühren, dass soziale Anpassungsstrategien an diesen Wandel noch fehlen.
Manche Forscher vertreten die Ansicht, technische Entwicklungen seien gar nicht das Thema, man müsse stattdessen die Umstrukturierungen in der Familie genauer betrachten. Die größten Zeitprobleme träten auf, wo beide Elternteile arbeiteten, wo also der einzelne Haushalt mehr Zeit in bezahlte Arbeit investiere. Die Soziologin Judy Wajcman schreibt: «Die Wahrnehmung, dass sich das Leben unangenehm beschleunigt hat, geht auf die reale Zunahme der kombinierten Arbeitsverpflichtungen aller Familienmitglieder zurück, nicht auf die Veränderung der Arbeitszeit des Einzelnen. Dieser Wandel in der Familienzusammensetzung und den Geschlechterverhältnissen, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, ist der Schlüssel zu einer Erklärung des Zeitdefizits.»
Eine letzte Handreichung für alle, die gar keine Doppelverdienerfamilie managen müssen und trotzdem das Gefühl haben, es bleibe am Ende des Tages zu wenig Zeit übrig: Beschleunigung bedeutet nicht selten, dass Dinge einfacher werden. Vereinfachung ist ein wohlklingendes Wort und gibt selten Anlass zur Klage. Aber wir sind immer gleichzeitig Leidtragende und Nutznießer der Beschleunigung: Wenn man selbst etwas schneller erledigen soll, ist das anstrengend, aber wenn Amt X für Vorgang Y nur noch drei Wochen statt sechs Monate braucht, wird das allgemein begrüßt. Außer vielleicht von den Mitarbeitern von Amt X. Verwirrenderweise sind es oft genau dieselben Techniken und Praktiken, die mit der einen Hand Vereinfachung schenken und sie mit der anderen Hand wieder wegnehmen. [34] Bürokratie etwa beschleunigt manche Vorgänge und macht das Leben dafür an anderen Stellen mühsamer, die Digitalisierung ermöglicht eine flexiblere Gestaltung von Arbeitszeit und -platz, führt aber dazu, dass sich die Arbeit dann eben auch in allen Tageszeiten und Räumen einnistet. Vielleicht ist die Beschleunigung nicht zuletzt deshalb so unbeliebt, weil sie uns mit der Nase darauf stößt, dass jede Vereinfachung immer auch irgendetwas anderes komplizierter macht – und sei es nur, indem die gewonnene Lebenszeit den Menschen dazu anstachelt, sich neue Kompliziertheiten auszudenken.
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7. Das Bücherrad neu erfinden
Der Ärger mit der Informationsüberflutung
Die unnützesten Informationen in der Informationsflut des Internet sind
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