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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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Kaum ein Drittel aller Piraten hatte sich überhaupt für Liquid Feedback angemeldet. Die konkreten Beteiligungsraten sind noch viel geringer, was die Hürden selbst für vermeintlich technikaffine und politikinteressierte Bürger verdeutlicht. Aber irgendwie muss man ja auch anfangen, und vielleicht läuft es wie bei den Computern, die vor nicht allzu langer Zeit nur von Spezialisten bedient werden konnten. Heute ist YouTube voll von Videoclips mit Kleinkindern, die sachkundig mit ihren iPads hantieren.
    Immerhin gibt es nach vielen Jahren Desinteresse und Kleinrederei des Netzes inzwischen keine Partei mehr, die nicht begeistert das Internet als sehr wichtig für die Politik preisen würde – allerspätestens seit dem ersten Parlamentseinzug der Piraten im Herbst 2011 in Berlin. Seitdem twittern praktisch alle, und von CDU / CSU bis Linkspartei gibt es Beauftragte für Netzpolitik und Arbeitsgruppen, die die digitalen Politinstrumente erproben.
    Wobei die Parteien unterschiedliche Grundansichten vertreten. Eher unüberraschend erweisen sich die konservativeren Parteien als eher abgeneigt, dem Volk mehr Netz-Mitsprache einzuräumen. In der Enquete-Kommission «Internet und digitale Gesellschaft» des Bundestages blockierten sie mehrfach entsprechende Vorhaben. Als Anfang 2011 eine Mehrheit der Enquete beschloss, eine Software namens Adhocracy für die Diskussion mit der Öffentlichkeit einzuführen, hatte der Vorsitzende der Kommission, Axel E. Fischer ( CDU ), plötzlich rechtliche Bedenken.
    Wie weit über die bloße Diskussion hinaus auch die reale demokratische Mitbestimmung des Volkes mit Hilfe des Internets gehen kann, hat Island schon mal ausprobiert. Das Land hatte während der Finanzkrise 2008 und 2009 sehr darunter gelitten, dass seine Banken sich am internationalen Finanzmarkt so verhalten hatten, als stünde hinter ihnen eine millionenstarke Volkswirtschaft. Island hat 320 000  Einwohner, so viel wie der fünftgrößte Berliner Bezirk, Neukölln. Um das Land vor künftigen Schäden zu bewahren, beschlossen die Isländer, sich eine neue Verfassung zu geben. Diese wurde von einer fünfundzwanzigköpfigen, gewählten Kommission erarbeitet – und zwar vollständig transparent. Jede Arbeitsversion war im Netz einsehbar, die Sitzungen wurden live gestreamt und publizistisch auf allen Plattformen begleitet. Über Facebook und auf einer eigenen Webseite konnte jeder Isländer Kommentare zur entstehenden Verfassung abgeben, die wiederum von der Kommission berücksichtigt wurden. Im Oktober 2012 sollte die vernetzt entstandene, erste Verfassung der Digitalen Demokratie zuerst vom Volk per Abstimmung abgesegnet werden, bevor sie per Ratifizierung durch das isländische Parlament in Kraft treten kann.
     
    Auch die Internet-Demokratie muss sich der Frage nach Macht und Einfluss stellen – wer bestimmt Meinungen und Gesetze? Das Netz gibt jedem die Chance, sich an der politischen Diskussion zu beteiligen, heißt es. Aber das ist nur eingeschränkt wahr. Dass fünfundfünfzig Millionen Deutsche im Internet sind, bedeutet auch, dass fast dreißig Millionen Deutsche nicht im Internet sind, warum auch immer – man kann niemanden dazu zwingen. Zudem sind manche Stimmen im Netz lauter, vernehmlicher und effektiver. Was das für eine Digitale Demokratie bedeuten könnte, sollte man vorher zumindest bedenken. Schon die nichtdigitale Demokratie bevorzugt diejenigen, die Zeit und Energie haben, sich stärker einzubringen. Naturgemäß Menschen, die weniger oder gar nicht für Geld arbeiten müssen. Und solche, die keine anderen zeitraubenden Angelegenheiten wie Antarktisdurchquerungen, Bücherschreiben oder Kinderbetreuung zu erledigen haben. Eine Digitale Demokratie würde diesen Effekt vermutlich nur verlagern. Technisch und politisch versierte Menschen mit viel Zeit könnten gezielt die eigene Agenda propagieren.
    Die Gefahr, dass sich ein leicht mobilisierbarer Schwarm Twitterer Steuererleichterungen für Twitterer ins Gesetz schreiben lässt, ist zwar eher gering. Im Sommer 2012 häuften sich in der Presse aber die Klagen darüber, dass eine kleine, aber laute und gut organisierte Netzgemeinschaft überdurchschnittlich viel Einfluss habe. ACTA sei dadurch gekippt worden, die Regierung habe sich Anfang Juli eilig vom eigenen Meldegesetz distanziert, das erst Ende Juni im Bundestag beschlossen worden war. Begriffe wie «digitaler Mob» fielen. Viele Netzaktivisten empfinden das als Hohn, denn sie sehen in bisherigen

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