Internet – Segen oder Fluch
nötigen der Demokratie ihre Spielregeln auf. Mit dem Internet entsteht deshalb eine Art Digitale Demokratie. Ihre wesentlichen Bestandteile sind die politische Willensbildung im Netz und die Verflüssigung von Strukturen wie Verwaltung, Regierung und Gesetzgebung.
Das meistdiskutierte demokratische Internetkonzept heißt Liquid Democracy, flüssige Demokratie. Das Internet wirkt ohnehin verflüssigend auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft, der ständige Datenaustausch macht aus Zuständen Prozesse. Und wer vom Auto bis zum Zweitwohnungsformular alles Erdenkliche in ein paar Sekunden kaufen, registrieren, herunterladen, ummelden oder recherchieren kann, möchte nicht vier Jahre warten, um eine Partei zu wählen, die vielleicht vor seiner Haustür endlich eine Tempo- 30 -Zone einrichtet. Deswegen wollen die Fürsprecher der Liquid Democracy die Grenzen zwischen politischer Diskussion und öffentlichen Abstimmungen verflüssigen. Die Wahl als einziges politisches Beteiligungsinstrument für die breite Masse passt ihnen nicht mehr in eine Zeit, deren Takt sich sonst überall spürbar erhöht hat.
Bei Liquid Democracy, auch «Delegated Voting» genannt, handelt es sich um eine Mischung von direkter und repräsentativer Demokratie, bei der Bürger ihre Stimme für einzelne politische Bereiche jeweils an jemanden vergeben, der ihre Überzeugungen am besten repräsentiert, ob Partei oder Einzelperson. Das geschieht nicht nur bei Wahlen, sondern im Prinzip bei allen politischen Abstimmungen. Konkret könnte ein Bürger sich dafür entscheiden, in Wirtschaftsfragen seine Stimme der Linken zu übertragen, in Internetfragen der CDU , in Kulturfragen Dieter Gorny, in Frisurenfragen Sascha Lobo – bei allen sonstigen Abstimmungen aber nach Art der bekannten Basisdemokratie selbst zu wählen. Wie kleinteilig und für welche Zeiträume diese Übertragung der Wahl geschehen soll, ist eine Frage der Ausgestaltung, aber klar ist, dass der Informations- und Abstimmungsaufwand überhaupt erst durch digital vernetzte Instrumente erträglich wird.
Hört sich spannend an, spricht der innere Hausmeister, aber warum sollte man so etwas Kompliziertes überhaupt ausprobieren? Neben der erwähnten digitalen Ungeduld hat die Technologie einen Großtrend des 20 . Jahrhunderts maßgeblich vorangetrieben, nämlich die Individualisierung. Im Bereich Konsum bedeutet zunehmende Individualisierung, immer speziellere, zu den eigenen Wünschen passendere Produkte zu finden. Diese Wahlmöglichkeit wird als Freiheit empfunden. Mit der Digitalisierung setzte eine Hyperindividualisierung ein, weil sich digital geprägte Güter wesentlich besser individuell anpassen lassen. Jeden Browser und die Benutzeroberfläche jedes Smartphones kann man in Funktion und Aussehen individualisieren. Aber die Maschinerie der Demokratie soll noch so funktionieren wie 1952 , im gleichen Wahltakt, sogar mit fast den gleichen Zahnrädern.
Natürlich soll sie das, sagen diejenigen, die in einer digitalen Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie eine Abkehr von der reinen Lehre sehen. «Keine Experimente!» [14] Mit einigem Recht führen sie an, dass gerade die nichtdigitale Langsamkeit Zeit zum Nachdenken und Abwägen gebe, was gut für die Politik sei. Die anderen glauben, dass die Demokratie sich weiterentwickeln
müsse
, um Bestand in einer sich verändernden Welt zu haben. Dafür soll das Internet Triebfeder und Plattform sein. Die Piratenpartei lässt sich als experimenteller Ansatz für diese Entwicklung hin zur Digitalen Demokratie betrachten. Sie hat es offenbar geschafft, Politik für bisher wenig Interessierte attraktiv zu machen. Seit der Berliner Abgeordnetenhauswahl im September 2011 haben sich bei jeder Landtagswahl überraschend viele ehemalige Nichtwähler wieder der Demokratie zugewandt. In Berlin hatten fast neunundzwanzig Prozent der Piratenwähler vorher nicht gewählt, im Saarland sogar fast dreißig Prozent, in Nordrhein-Westfalen knapp zwölf Prozent und in Schleswig-Holstein immerhin noch zehn Prozent.
Die Piratenpartei bemüht sich, den anstrengenden, pixeligen Weg zur Bürgerbeteiligung im Netz zu erforschen. Sie nutzt Liquid Feedback bereits, um die Überzeugungen ihrer Mitglieder in die Politik der Abgeordneten und ins Parteiprogramm einfließen zu lassen. Mitte 2012 war Liquid Feedback jedoch noch so umständlich und teilweise dysfunktional, als wäre es von deutschen Ingenieuren für deutsche Ingenieure entworfen worden.
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