Internet – Segen oder Fluch
Lobbystrukturen eine viel größere undemokratische Einflussnahme und sich selbst als Repräsentanten eines digitalen Volkswillens. Aber die Sorgen sind ernst zu nehmen. Denn mit der schrittweisen Verlagerung des politischen Spielfelds ins Netz könnte eine digitale Elite entstehen, die glaubt, keine zu sein. Das Phänomen ist nicht neu, aber bleibt auch im ziemlichvielten Aufguss unangenehm.
Mit Plattformen wie Liquid Democracy bekommen Diskussionen im Netz ein größeres Gewicht bei der Ausgestaltung der Politik. Wer zum Beispiel hunderttausend Follower auf Twitter hat, kann schnell viele Mitdiskutanten mobilisieren, Abstimmungen manipulieren, eine Meinungsfront inszenieren. «Man muss es sich so vorstellen: Wenn wir über den Marktplatz gehen, kommen ab und zu ein paar Menschen vorbei, die hundert Meter groß sind», schrieb Frank Schirrmacher in «Payback» ( 2009 ), um zu verdeutlichen, dass im Netz nicht alle Teilnehmer gleich sind. Er führt den Matthäus-Effekt im Internet an, «wer da hat, dem wird gegeben werden». Die Versierten haben einen substanziellen Vorteil durch ihre Kenntnis, wie das Netz und soziale Medien technisch funktionieren. Dieser Vorteil wirkt in so ziemlich allen Bereichen, aber besonders stark bei der Bündelung von Aufmerksamkeit. Wer die technischen Spielregeln besser beherrscht, sie vielleicht sogar manipulieren kann, dessen Stimme zählt mehr. Damit besteht durchaus die Gefahr einer Nerdokratie. Gerade die Bekämpfung von Herrschaftswissen kleiner Gruppen aber ist eines der Ziele der neuen Spielarten der Demokratie. Deshalb wird das Gebot zur Transparenz so sehr betont, deshalb wird die Offenheit im Netz gefordert.
Ein Problem ergibt sich für die Digitale Demokratie aus dem eigenen Anspruch, demokratisch sein zu wollen und also das ganze Volk einbeziehen zu müssen. In einem Leserbrief an den
Spiegel
schrieb einer der Gründungsherausgeber der
FAZ
, Paul Sethe, 1965 den berühmt gewordenen Satz: «Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.» Die Verfechter der Digitalen Demokratie müssen aktiv dagegen anarbeiten, zur Demokratie der 200 000 meistverfolgten Twitterer zu werden. Obwohl [15] .
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11. Regulierungsbeschwerden
Der ewige Netzkampf zwischen Kontrolle und Freiheit
Das Vorhandensein einer akzeptablen Strassenverkehrsordnung ist kein Gütesiegel zur Verklärung von Diktaturen.
Ralf Schuler in der
Neuen Zürcher Zeitung
vom 1 . Oktober 2010
Wie Rom und – wenn man mal ganz ehrlich ist – eigentlich alle Städte wurde das Internet nicht an einem Tag erbaut. Es hat viele Geburtstage. Und seit Anbeginn seines Daseins ist der wichtigste Grundkonflikt des Internets, Freiheit versus Kontrolle, fest in seiner technischen Struktur verankert. Er lässt sich am besten verstehen, wenn man den 22 . November 1977 als Geburtsstunde betrachtet.
Die ersten internetartigen Konzepte stammen aus den vierziger Jahren. Vannevar Bush, Direktor der militärischen Forschungseinrichtung «Office of Scientific Research and Development», veröffentlichte 1945 im Magazin
Atlantic Monthly
den Artikel «As We May Think». Darin beschreibt er ein Informations- und Kommunikationsnetz samt einer Art PC , den er Memex nennt, Memory Extender. In den folgenden zweiunddreißig Jahren forschten Militär, einige Universitäten und auch Unternehmen an der digital vernetzten Zukunft. Dabei schufen sie viele lokale Datennetze, die ihre Geräte miteinander verbanden. Irgendwie. Das war für die jeweiligen Situationen effizient und praktikabel, ähnelte insgesamt aber einem programmiererischen Flickenteppich, nur eben ohne Verbindungen zwischen den Flicken. Mitte der 1970 er Jahre war auf diese Weise ein kaum überschaubarer Wust an lokalen Computernetzwerken entstanden, die auf beinahe ebenso vielen technischen Konzepten beruhten.
Die naheliegende nächste Aufgabe bestand nun darin, die vielen Datennetze miteinander zu verknüpfen. Dafür mussten verbindliche Standards geschaffen werden, um die sich mehrere Wissenschaftlergruppen kümmerten, aus denen zwei herausstachen: erstens eine Initiative, die aus dem Umfeld des ARPANET kam, des militärfinanzierten, universitär entwickelten Urahns des Internets. Und zweitens ein Team, in dem Forscher der Internationalen Fernmeldeunion ( ITU ) und der Internationalen Organisation für Normung ( ISO ) zusammenarbeiteten. Beide Gruppen waren entsprechend ihrer Herkunft sehr unterschiedlicher Ansicht über
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