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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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Netze. Die militärisch-universitär geprägte Gruppe legte Wert auf Dezentralität, da dezentrale Kommunikationsnetze kaum zerstörbar sind, selbst wenn sie teilweise in Feindeshand gelangen (anders als zum Beispiel Radiosender). Dazu mussten die einzelnen Knotenpunkte eines solchen Netzes autark funktionieren, was technisch ein hohes Maß an Offenheit und Variabilität erforderte. Die Abhängigkeit von einer Zentrale kann nur reduziert werden, wenn die Sende- und Empfangshoheit bei den Endpunkten, den Nutzern des Netzwerks, liegt. Die kommerziell und bürokratisch geprägte Gruppe betrachtete Netze aus einem anderen Blickwinkel: dem der Kundenbeziehung. Sie wollte einen Standard wie bei Telefonnetzen schaffen, ein Netz, das jederzeit und überall einen eindeutigen Verantwortlichen hat, dessen Teilnehmer als Kunden und eben nicht als autarke Einheiten betrachtet werden. Kurz, eine zentralisierte Netzstruktur.
    Die erste Gruppe entwickelte ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Protokoll namens TCP [64] , die zweite Gruppe entwarf einen Satz technischer Vereinbarungen namens X. 25 . Hätte diese Version sich durchgesetzt, wäre das Internet heute vielleicht eine Mischung aus Bildschirmtext, Fernsehen und Telefon, jede Webseite würde von einer großen Gesellschaft erstellt oder zumindest genehmigt werden müssen, mit strengen Regeln für Inhalt und Form.
    Aber TCP setzte sich durch, und das hing mit dem Experiment vom 22 . November 1977 zusammen. An diesem Tag wollten die Forscher ihr Vernetzungskonzept auf die Probe stellen und die unterschiedlichsten lokalen Datennetzwerke miteinander verbinden, die gerade greifbar waren. Also schlossen sie das Netzwerk des University College London via Satellit mit dem ARPANET der University of Southern California zusammen – und dazu noch per Funk [65] einen Rechner, der in einem Lieferwagen auf einem kalifornischen Freeway fuhr. Das war der Beginn des Meta-Netzwerkes, das heute das Internet ist. Dieses Metanetz war von Anfang an darauf ausgerichtet, technisch sehr verschiedenartige Teilnehmer miteinander zu verbinden, und darin lag die Weitsicht des Konzepts. Die TCP -Gruppe hatte erkannt, dass in Zukunft noch viel mehr unterschiedliche lokale Netze zu verbinden waren. Sie plante die explodierende Diversität mit ein, indem sie jedem zukünftigen Teilnehmer die Möglichkeit gab, sich selbst ans Netz anzuschließen. Und nicht darauf warten zu müssen, dass eine Zentrale den Anschluss bestätigt, wie es bis heute beim Telefonnetzwerk der Fall ist [66] . Der Erfolg des Internets liegt hauptsächlich in dieser Offenheit begründet.
    Hinter diesen beiden Netz-Konzepten steht der technische Konflikt um zentrale Dirigierbarkeit versus autonome Einzeleinheiten – Freiheit versus Kontrolle eben, ein Grundkonflikt um Kommunikationstechnologien, der schon lange vor dem Internet bestand. Er prägte etwa die in den zehner Jahren des 20 . Jahrhunderts entstehende Radiolandschaft in den Vereinigten Staaten. Der Juraprofessor Tim Wu beschreibt in «The Master Switch», wie in der Zeit vor der Frequenzen-Regulierung jedermann einen Radiosender kaufen oder bauen konnte. So entwickelte sich eine progressive, kleinteilige und sehr diverse Radioszene. Die begeisterten Texte dieser Ära ähneln auffällig denen, die man in den 1990 er Jahren über das Internet lesen konnte. Einer dieser Radiopioniere, der Erfinder Lee de Forest, schrieb um 1920 in einer Zeitschrift: «Radio ist das interessanteste aller Hobbys. Es kennt kaum Grenzen, bietet die größte Faszination, sowohl für den intensiven Wettstreit mit anderen von nah und fern wie auch für das stille Lernen und pure Freude in ruhigen Nachtstunden, während man Besucher aus der ganzen Welt willkommen heißt.» [67]
    An eine terrestrische Radiolizenz zu kommen, ist heute in Deutschland ungefähr so einfach, wie im Lotto zu gewinnen. Beim Radio endete die Entwicklung mit einem klaren Sieg der zentralen Kontrolle über die dezentrale Freiheit, nicht nur hierzulande oder in den USA , sondern überall auf der Welt. Sicherlich auch deshalb, weil es anders als im Netz nur eine überschaubare Menge geeigneter Übertragungsfrequenzen und damit nicht genug Platz für alle gibt.
    Wegen dieses Grundkonflikts folgt die Technologie und ihre Verbreitung einem bekannten Muster. Das Problem Sicherheit versus Freiheit prägt das Nachdenken über Staat und Gemeinschaft seit der Antike. Soll man eher einer zentralen Macht wie dem Staat vertrauen – oder dem

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