Internet – Segen oder Fluch
können ebenso gut aus jungen, gut ausgebildeten Faschisten bestehen. In der Türkei existieren mehrere Hackergruppen, die in gut organisierten, aggressiven und technisch beschlagenen Schwärmen über Webseiten herfallen, die den türkischen Völkermord an den Armeniern zu Beginn des 20 . Jahrhunderts diskutieren. Sie beschränken sich nicht auf die Türkei, sondern greifen auch Ziele in anderen Ländern an, zum Beispiel in Frankreich, das per Gesetz die Leugnung des Völkermords in Armenien verbot. Auf der gehackten Seite der Abgeordneten, die das Gesetz initiiert hatte, hinterließen die Hacker eine Botschaft an das ganze Volk: «Ihr Franzosen seid so erbärmlich und mitleiderregend». Die Nachrichtenagentur AFP interviewte eine dieser Gruppen namens Akıncılar und schrieb: «Die Mitglieder von Akıncılar sehen sich als ‹Cyber-Kämpfer›, die die Werte des Islam und der Türkei verteidigen.» Es handelt sich dabei um eine neue Form der nationalistischen Schwarmzensur, und die Grenzen zur erwünschten politischen Aktion sind fließend.
Politischer Aktivismus im Netz muss nicht einmal bösartig oder nationalistisch daherkommen, um zweifelhafte Auswirkungen zu haben. Vielmehr steht er unter einer Art Generalverdacht, den der Begriff ‹Slacktivismus› beschreibt: Politisches Engagement im Netz bestehe aus einem Klick, einem beruhigten Gewissen und einem schlechten Gedächtnis. Noch dazu, so eine gängige Einschätzung, verleite der Herdentrieb im Netz dazu, politische Botschaften kaum zu hinterfragen. Der dreißigminütige Videoclip « KONY 2012 » der politischen Gruppierung Invisible Children verbreitete sich Anfang März 2012 über soziale Medien schneller als irgendein Internetvideo jemals zuvor. Darin wurde die Geschichte von Kindersoldaten in Uganda erzählt und zum Kampf gegen den Rebellenführer Joseph Kony aufgerufen. Es war kaum möglich, dem bewegend inszenierten Film zu entkommen, vermutlich wurde er von Millionen Teenagern mit Tränen in den Augen weiterverbreitet – und genau darauf war er auch zugeschnitten. Allerdings, darauf wies unter anderem die
Süddeutsche Zeitung
hin, vereinfachte das Video die politische Situation in Uganda auf problematische Weise. Unter anderem wurde ein simplifiziertes Gut-Böse-Bild gezeichnet, denn auch die mit dem Film unterstützte Sudanesische Volksbefreiungsarmee ist in Kriegsgräuel verwickelt. Eigentlich handele es sich um den Aufruf zu einer militärischen Intervention. Ein geschickt inszenierter Internetappell könnte es also geschafft haben, weltweit viele Millionen Menschen zu empörten Befürwortern eines Krieges zu machen. Die
Süddeutsche Zeitung
schließt ihre Analyse mit dem Satz: «Ob eine Welt, in der der ‹Slacktivism› der Vielen die Politik per Mausklick zu den Waffen drängt (und sei es mit den besten Intentionen), ein besserer Ort ist, ist eine andere Frage.»
Der selbstzufriedene Klickrevoluzzer, der nichts riskiert, nichts einsetzt außer zehn Sekunden Empörung und einen Facebook-Like, ist das oft medial gezeichnete Klischee des Slacktivismus. Zeynep Tufekci, Assistenzprofessorin für Techniksoziologie an der Universität von North Carolina, hält das für ungerechtfertigt: «Der Begriff des Slacktivismus ist nicht nur naiv und herablassend, er ist falsch und irreführend. ‹Slacktivismus› hat nichts mit ‹entspanntem Aktivismus› [slacker activism] zu tun; es sind vielmehr Nichtaktivisten, die symbolisch aktiv werden, oft in Bereichen, in denen sich sonst nur echte Aktivisten oder professionelle Helfer wie Regierungen, NGO s und internationale Institutionen engagieren.» Sie sieht in diesen symbolischen Aktionen von Leuten, die sich sonst gar nicht beteiligen würden, eine wichtige Neuerung. Denn hier werden neue Narrative geschaffen, aktivierende Geschichten, die in den sozialen Medien weitererzählt werden und in unpolitischen Teilen der Bevölkerung für Aufmerksamkeit sorgen. Genau das führe wiederum zu weiteren, wirkungsvollen Aktivitäten. Aus dieser Perspektive ist Slacktivismus eine neue Form der interaktiven PR für humanitäre und ähnliche Zwecke.
Tufekcis These lässt sich an einem prominenten deutschen Beispiel für Netzaktivismus veranschaulichen. 2009 sollte das von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen initiierte «Zugangserschwerungsgesetz» Netzsperren gesetzlich verankern. Dem Twitternutzer @erdgeist, Aktivist des Chaos Computer Clubs, gelang es, ein aktivierendes Narrativ zu einem einzigen Wort
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