Internet – Segen oder Fluch
eingeschränkt weiterentwickelt.
Die soziale Frage des Netzes unterscheidet sich allerdings in einem Punkt radikal von den meisten anderen Internetdiskussionen: In der unterstellten Wirkung des Internets stehen sich Pro und Contra fast spiegelbildlich gegenüber. «Das Netz fördert Einsamkeit», sagen die einen, «Das Netz vertreibt Einsamkeit», die anderen. Und so weiter: Unendliche Selbstbezogenheit! Nein, bereichernder Austausch! Zynische Distanz versus wahre Nähe, emotionales Zombietum gegen tiefste Gefühle, vielleicht ist die Argumenteschlacht um das Soziale die prototypischste Schwarz-Weiß-Diskussion seit Mac vs. PC . Immerhin lassen sich dadurch die Frontverläufe zwischen den Fraktionen besser skizzieren. Gegenübergestellt werden
Vereinsamung und Gemeinschaftsbildung,
Narzissmus und Empathie,
Oberflächlichkeit und Unterflächlichkeit.
Eines kann gleich zu Beginn dieses Kapitels verraten werden: Ohne nähere Spezifikation stimmen alle sechs Begriffe, das Internet macht einsam und gesellig, eitel und empathisch, oberflächlich und interessiert. Gleichzeitig. Zu jedem Punkt finden sich drei Dutzend wissenschaftliche Beweise und ein Zentner amerikanische Sachbücher voll mit Anekdoten. Wagen wir deshalb die direkte Gegenüberstellung vermittels der wunderbaren Kulturtechnik des Abwägens.
Narzissmus vs. Empathie
Psychologisch betrachtet ist mangelnde Empathie eines der Anzeichen einer krankhaften, narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Im sozialen Netz-Alltag funktioniert das Gegensatzpaar Narzissmus und Empathie simpler: interessiert sich jemand in erster Linie für sich selbst oder für andere? Diese Frage kommt harmlos daher, den meisten Leuten dürften sofort Musterbeispiele für beide Typen einfallen. Genauer besehen ist die Unterscheidung nicht ganz so einfach, insbesondere nicht in den sozialen Medien. Denn die Grenzen verschwimmen leicht. Ein und dasselbe Foto, ein Urlaubsmotiv am Strand etwa, kann arrogante Angeberei wie arglos geteilte Freude bedeuten. Und zwar sowohl in der Absicht beim Hochladen wie in der Interpretation durch das Publikum.
Ironischerweise trägt einer der auf Facebook meistgeliketen Artikel des Magazins
The Atlantic
von Mai 2012 den Titel «Macht Facebook uns einsam?». Darin wird die Soziologieprofessorin Sherry Turkle zitiert, die lange zu den Netzoptimisten gehörte, inzwischen aber skeptisch geworden ist: «Die Verbindungen, die wir im Internet knüpfen, sind am Ende doch unverbindlich. Aber es sind die Verbindungen, die uns beschäftigen.» Die Schlussfolgerung ist, dass nicht Facebook oder Twitter automatisch einsam machten, sondern deren Nutzer sich selbst, in der Selbstbespiegelung durch soziale Netzwerke. Hier schwingt ein häufiger Vorwurf mit: «Narzissmus und Einsamkeit gehen Hand in Hand». Das möchte der Artikel mit einer Handvoll von Studien belegen, die sowohl Narzissmus und Einsamkeit miteinander verknüpfen als auch beweisen sollen, dass die «Generation Facebook» noch viel narzisstischer sei als alle vor ihr. Facebook habe das Kuratieren der Ausstellung des Selbst zur Vollzeitbeschäftigung gemacht.
Tatsächlich lässt sich belegen, dass zum Beispiel unter jungen Amerikanern die Tendenz zur «narzisstischen Persönlichkeitsstörung» zunimmt. Auch ist richtig, dass Selbstbezogenheit dem Aufbau persönlicher Bindungen im Weg steht. Ebenso wenig umstritten ist, dass junge Amerikaner häufiger bei Facebook sind als ungefähr alle anderen Bevölkerungsgruppen der Erde (bis auf amtierende Päpste, die zu hundert Prozent auf Facebook zu finden sind). Fraglich ist allerdings die kausale Verknüpfung dieser Tatsachen. Dagegen spricht, dass der statistische Anstieg narzisstischer Störungen schon begann, bevor Facebook überhaupt gegründet war. Der wachsende Narzissmus könnte auch Folge der veränderten Behandlung von Kindern durch Eltern und Lehrer sein. Ebenfalls gegen die simple Rechnung «Facebook führt zu Narzissmus» spricht, dass sich wesentliche Persönlichkeitsstrukturen bereits mit sieben Jahren verfestigt haben – lange vor dem durchschnittlichen Anmeldealter bei Facebook.
In der alltäglichen Diskussion um Narzissmus und Eitelkeit in sozialen Netzwerken begegnet man dem wiederkehrenden Vorwurf, dass es dort um bloße Selbstdarstellung gehe. Die negative Konnotation des Selbstdarstellers im Deutschen hat ihre eigene Geschichte. Der Sozialpsychologe Ervin Goffman untersuchte die Inszenierung der eigenen Person in seinem Buch «Wir spielen
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