Internet – Segen oder Fluch
alle Theater» von 1959 . Wörtlich übersetzt lautet der englische Originaltitel «Die Präsentation des Selbst im Alltagsleben». Es geht Goffman um die Theorie der sozialen Rollen. Demnach ist jede soziale Interaktion ein Rollenspiel wie auf einer Theaterbühne. Das Selbst ist ein Image, das man vor dem sozialen Publikum erzeugen möchte. Diese Form der Selbstdarstellung umfasst die Kleidung, die Frisur und vieles Weitere. Es wäre falsch, das bloße Vorhandensein einer Frisur schon für eitle Selbstdarstellung zu halten, von wenigen Spezialfrisuren vielleicht einmal abgesehen. Der soziale Bereich des Netzes bietet demnach nur eine neue Form der gesellschaftlichen Selbstdarstellung, vergleichbar mit der Mode.
Es wäre kulturhistorisch interessant, ob bei der Erfindung der Kleidung die frühesten Angezogenen in den ersten Jahren von den noch Nackten als eitle Selbstdarsteller beschimpft wurden. Jede neue Praxis der Selbstdarstellung zieht zu Beginn besonders jene Intensivnutzer an, die dann auch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit prägen. Erst mit dem Durchsickern des Verfahrens in die Masse etabliert sich so etwas wie eine Normalität in sozialen Netzwerken. In dieser Entwicklung kann man Erstaunliches beobachten: Während die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken zunimmt, reduziert sie sich in anderen Bereichen. Es ist zwar nicht zu sagen, ob ein kausaler Zusammenhang besteht, aber genau die Generation, die mit sozialen Netzwerken aufgewachsen ist, interessiert sich weniger für materielle Statussymbole als die Generation vor ihr. Das ist natürlich ein bisschen ungerecht, weil ebendiese Vorgänger aus dem materialistischsten aller Jahrzehnte kommen, den achtziger Jahren, in denen selbst König Midas bescheiden gewirkt hätte.
Es gibt etliche Hinweise darauf, dass sich in den westlichen Gesellschaften Merkmale von Status und Selbstdarstellung vom Materiellen ins Soziale verschieben. Der Angeber der Zukunft produziert sich nicht mit seinen teuren Klamotten, sondern mit der Zahl der Follower auf Twitter. [17] Personalverantwortliche großer Konzerne klagen darüber, dass sich der Nachwuchs kaum noch mit großen Dienstwagen begeistern lasse, sondern eher von sozialen Qualitäten des Unternehmens. Wenn man annimmt, dass sich die Selbstdarstellung immer die effektivste Bühne sucht, hat man eine gute Erklärung dafür, dass das Internet den Narzissmus zu befördern scheint. Es zieht die Narzissten aus den Autohäusern und Modegeschäften, weil sie ein zeitgemäßeres und auch preiswerteres Instrument entdeckt haben.
Auf der anderen Seite sind die sozialen Medien nicht nur ein Forum für Selbstdarsteller, sondern befördern auch die Empathie. Davon ist der Ökonom und Soziologe Jeremy Rifkin überzeugt, der auch meint, dass sich mit dem Netz und speziell mit sozialen Netzwerken die Welt retten lasse. Die bereits erwähnte Sherry Turkle wechselte von der begeisterten auf die kritische Seite – Rifkin, der Ende der 1980 er Jahre wegen seiner industriekritischen Einstellung noch als Luddit, als Maschinenstürmer, verspottet worden war, hat seine Hoffnung auf die Technologie der digitalen Vernetzung gesetzt. In seinem Buch «Die empathische Zivilisation» beschreibt er, wie das Internet dazu beitragen könne, die Menschheit von Narzissmus, Gier und Bösartigkeit abzubringen – um sie in ein Zeitalter des gegenseitigen Verständnisses zu führen. Rifkin glaubt, dass sich die Verbundenheit zwischen Menschen parallel zu den jeweils verfügbaren Kulturtechnologien entwickelt habe. Er führt steinzeitliche Clan-Gesellschaften an, in denen die Empathie so weit reichte wie die Stimme. Das Konzept der Nation habe sich mit der Industriegesellschaft entwickelt, mit der die ersten Massenmedien aufkamen. Das Internet nun biete die Chance, dass die gesamte Menschheit sich als «erweiterte Familie» fühlen könne. Rifkins Buch über die empathische Weltzivilisation wurde als naiv verrissen, aber der Autor hat viele eifrige Internetnutzer auf seiner Seite, besonders diejenigen, die das Netz als Heimat begreifen.
Bleibt natürlich die Frage, ob diese Gefühle der Zusammengehörigkeit letzten Endes echt und tief empfunden sind oder wiederum nur der Selbstbestätigung dienen, also als soziale Rolle das sympathische Bild eines mitfühlenden Menschen vermitteln sollen. Dahinter steckt eines der größten sozialen Rätsel schlechthin: existiert soziales Handeln überhaupt, oder tut man alles ohnehin nur für sich selbst? Jedes
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