Internet – Segen oder Fluch
den ersten, zweiten und sogar dritten Blick noch gar nicht so aussieht. Es sieht deshalb nicht so aus, weil die andere Seite schlampige Argumente gebraucht (genau wie die eigene), aber vor allem sieht es nicht so aus, weil diverse Filter in unseren Köpfen hart daran arbeiten, die anderen Positionen in einem schlechten Licht darzustellen.
Konservative Internetkritiker sind nicht deshalb konservativ, weil sie eine unglückliche Kindheit hatten oder aus genetischen Gründen ängstlicher sind. Verteidiger eines ganz und gar freien und unzensierten Internets hängen ihrem komischen Glauben nicht aus Dummheit, Zynismus oder Naivität an. «Wir glauben, die andere Seite sei blind für Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft und gesunden Menschenverstand», schreibt Jonathan Haidt, «aber tatsächlich ist jeder blind, wenn von seinen heiligen Themen die Rede ist». Eine konstruktivere Auseinandersetzung über die Themen dieses Buchs ist dann möglich, wenn alle Beteiligten zumindest versuchen, sich vorzustellen, dass es auch auf der anderen Seite intelligentes Leben gibt. Nein, ernsthaft.
Für Optimisten bedeutet das: Technik hat nicht nur technische Voraussetzungen und technische Folgen, sie hat auch soziale und ethische Aspekte. Nicht alle Veränderungen sind automatisch Verbesserungen. Es ist kein Verrat an der technikfreundlichen Position, die weniger erfreulichen Seiten der Digitalisierung zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und respektvoll mit Skeptikern umzugehen. Selbst dann, wenn die Argumente dieser Skeptiker eher geringe Technikkenntnis verraten.
Für Skeptiker bedeutet es: Nicht alle von Technik geprägten Veränderungen sind automatisch Verschlechterungen. Und sie bestehen nicht nur daraus, dass etwas auf herzlose, mechanische Weise schneller, billiger oder einfacher wird. Es ist kein Verrat an der skeptischen Position, positive Folgen der Digitalisierung für das menschliche Zusammenleben zur Kenntnis zu nehmen und die Auseinandersetzung mit Optimisten zu suchen. Auch dann, wenn die Argumente dieser Optimisten naiv und ahistorisch erscheinen mögen.
Für beide Gruppen bedeutet es: Wenn Sie das Gefühl haben, die Folgen technischer Veränderungen früher als die meisten anderen Menschen zu erkennen, dann nutzen Sie diesen Vorsprung nicht dazu, ganztags Ihre große Weitsicht und die Beschränktheit der anderen zu verkünden. Schweigen Sie höflich oder machen Sie es wie der Verleger Tim O’Reilly und gründen Sie ein Unternehmen, das auf diesen Erkenntnissen basiert. Falls Sie eingeladen werden, Vorträge über dieses Unternehmen zu halten, sprechen Sie über Ihre eigenen erfolgreichen Entscheidungen und nicht über die Fehler derer, die es anders machen.
Beide Seiten würden davon profitieren, wenigstens ein oder zwei Standardwerke der jeweils anderen Auffassung von Technik zu lesen (siehe Kasten). Alle diese Bücher enthalten auch mittelmäßige und schlechte Argumente. Das ist kein Grund, das jeweilige Buch befriedigt über das schlechte theoretische Fundament der gegnerischen Position nach dem zweiten Kapitel aus der Hand zu legen. Kalkulieren Sie den Drang Ihres Gehirns ein, Ihnen andere Weltanschauungen in einem unvorteilhaften Licht darzustellen.
Ausgleichslektüre für Optimisten:
Oswald Spengler: «Der Mensch und die Technik» ( 1931 )
Alvin Toffler: «Der Zukunftsschock» ( 1970 )
Neil Postman: «Das Technopol: Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft» ( 1992 )
Hartmut Rosa: «Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne» ( 2005 )
Lee Siegel: «Against the Machine: Being Human in the Era of the Electronic Mob» ( 2008 , keine deutsche Übersetzung)
Frank Schirrmacher: «Payback: Warum wir im Internetzeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen» ( 2009 )
Mark Helprin: «Digital Barbarism: A Writer’s Manifesto» ( 2010 , keine deutsche Übersetzung)
Jaron Lanier: «Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht» ( 2010 )
Nicholas Carr: «Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? – Wie das Internet unser Denken verändert» ( 2010 )
Evgeny Morozov: «The Net Delusion: How Not to Liberate The World» ( 2011 , keine deutsche Übersetzung)
Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee: «Race Against The Machine: How the Digital Revolution is Accelerating Innovation, Driving Productivity, and Irreversibly Transforming Employment
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