Internet – Segen oder Fluch
«konservative Politiker» suggerieren. Bei Google+ sortiert man die Menschen, deren Updates man verfolgt, in «Kreise», die diesen Sachverhalt anschaulich machen. Schon in der analogen Welt gehört jeder Mensch verschiedenen Kreisen an. Von den Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man gleichzeitig Urheber, Nutzer und womöglich sogar Verwerter kreativer Werke ist, wird im Kapitel über das Urheberrecht noch ausführlicher die Rede sein.
Obwohl die Welt so kompliziert ist, wird in diesem Buch immer wieder von den beiden Gruppen der «Optimisten» und der «Skeptiker» die Rede sein. Das ist eine grobe, aber notwendige und zweckmäßige Vereinfachung der eigentlichen Zustände. Bitte sehen Sie uns nach, dass wir nicht in jedem Kapitel acht neue Milieus anlegen, aus deren Sicht man das Thema eigentlich beleuchten müsste. Das Buch wäre dann zwar ungefähr acht Mal korrekter, aber auch acht Mal umständlicher. Denken Sie sich, wenn die beiden Gruppen genannt werden, bitte dazu, dass damit nicht immer dieselben Menschen gemeint sind. Wer Facebook misstrauisch gegenübersteht, kann das Konzept der Post-Privacy (siehe Kapitel 12 ) aus ganz anderen Gründen gut finden, und wer an ein möglichst freies und unreguliertes Internet glaubt, regiert vielleicht im Kommentarbereich seines eigenen Blogs mit eiserner Hand.
Irreführende Metaphern und falsche Hoffnungen auf einfache Lösungen haben den Vorteil, dass sie sich durch Nachdenken beheben lassen (manchmal). Andere Auslöser für Streitigkeiten liegen in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns begründet und stehen einer Verständigung daher viel hartnäckiger im Weg. Wir neigen zu allen möglichen Denkfehlern: Wir schlussfolgern aus viel zu kleinen Stichproben, glauben am liebsten das, was unsere Freunde glauben, und neigen dazu, all das nicht wahr- oder nicht ernst zu nehmen, was uns schlecht in den Kram passt. Wir sind grundsätzlich vergesslich, und noch viel vergesslicher, wenn es darum geht, dass wir in der Vergangenheit unrecht hatten [4] , zudem fallen wir bereitwillig auf falsche Informationen herein, wenn sie uns nur gut aussehen lassen.
Das ist ein winziger Ausschnitt aus den zwei langen Listen «List of cognitive biases» und «List of fallacies», in denen die englische Wikipedia gängige Selbsttäuschungen und Wahrnehmungsverzerrungen aufführt. [5] Dort sind an die 150 verschiedene Strategien verzeichnet, mit deren Hilfe das Gehirn Informationen ausblendet, ohne dass sein Besitzer es auch nur bemerkt. Im Prinzip ist das sinnvoll, denn das Gehirn ist ein vielbeschäftigtes Organ und muss Abkürzungen nehmen, wenn es nicht den ganzen Tag im Bett liegen und die Vor- und Nachteile des Aufstehens gründlich gegeneinander abwägen will. Aber das Verfahren hat auch Nachteile. Etwa den, dass die Argumente der Gegenseite dadurch schlechter aussehen, als sie in Wirklichkeit sind.
Am Anfang der Bewertung von Sachverhalten steht eine Intuition: die Angelegenheit fühlt sich richtig oder falsch an. Anschließend erst beginnt das Gehirn in seiner Argumentensammlung zu kramen und konstruiert eine strategische Beweisführung. Sie dient dazu, die intuitive, erste Bewertung vor anderen Menschen zu verteidigen und ihnen zu erklären, warum sie sich dem eigenen Urteil anschließen sollten. Der amerikanische Psychologe und Moralforscher Jonathan Haidt beschreibt den Vorgang in seinem Buch «The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion»: «Die moralische Intuition taucht automatisch und fast ohne Verzögerung auf, lange bevor das Nachdenken über moralische Fragen überhaupt beginnen kann, und diese ersten Intuitionen neigen dazu, die Ergebnisse des späteren Nachdenkens zu verdrängen. Wer davon ausgeht, dass wir über Moral nachdenken, um die Wahrheit herauszufinden, wird immer wieder frustriert feststellen, wie albern, voreingenommen und unlogisch andere reagieren, wenn sie die eigene Meinung nicht teilen. Aber wenn man moralisches Urteilen als Fähigkeit betrachtet, die wir Menschen entwickelt haben, um unsere soziale Agenda voranzubringen – unsere eigenen Handlungen zu rechtfertigen und unser Team zu verteidigen –, dann sieht die Welt gleich verständlicher aus. Befassen Sie sich mit den Intuitionen und nehmen Sie die moralischen Argumente nicht zu wörtlich. Es sind größtenteils nachträgliche, schnell aus dem Ärmel geschüttelte Konstruktionen, die einem oder mehreren strategischen Zielen dienen.»
Wer gebildet ist und
Weitere Kostenlose Bücher