Internet – Segen oder Fluch
Übung im Ausdenken von Argumenten hat, tappt noch sicherer in die Fallen der Irrationalität, weil er mühelos zahlreiche Begründungen für sein Bauchgefühl erfinden und selbst an sie glauben wird. Aber woher kommen diese Intuitionen? Weil bestimmte Moralkonzepte ebenso wie bestimmte Anforderungen des menschlichen Soziallebens in allen Kulturen existieren, vermutet Jonathan Haidt, das moralische Urteilsvermögen habe sich als eine Art ethische Zunge mit sechs Geschmacksrezeptoren herausgebildet. [6] Diese «Moral-Module» sind in allen Menschen angelegt und werden im Laufe des Lebens von verschiedenen Einflüssen und Erfahrungen verstärkt oder gehemmt. Das erste dieser Module ist das Bedürfnis, für andere zu sorgen und sie vor Schaden zu bewahren. Das zweite ist Fairness und Gerechtigkeit, das dritte Loyalität einer Familie, einer Gruppe oder einem Land gegenüber. Das vierte ist Respekt vor Traditionen und Autoritäten, das fünfte das Konzept der Reinheit oder Heiligkeit und das sechste Freiheit. In westlichen Ländern und dort vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums sind Fürsorge, Fairness und Freiheit wichtig, während Loyalität, Tradition und Reinheit keine große Rolle spielen. Konservative Wähler und die Bewohner vieler nicht-westlicher Länder, so Haidt, verteilen ihre Aufmerksamkeit gleichmäßiger auf alle sechs Werte, wodurch für jeden einzelnen Wert insgesamt weniger übrig bleibt. Die Einflüsse, die dazu führen, dass sich bestimmte Wertvorstellungen stärker ausprägen als andere, liegen in der eigenen Persönlichkeit, in der Erziehung, dem kulturellen Umfeld und den individuellen Erfahrungen.
Dem konservativen Diskussionsteilnehmer erscheint der Wert der Tradition genauso wenig begründungsbedürftig wie seinem libertären Gesprächspartner der Wert der Freiheit. Dass jedem die eigenen Wertvorstellungen selbstverständlich erscheinen, verlockt zum schlampigen Argumentieren. Zum einen hat man ohnehin wenig Einblick in die Entstehung der eigenen Präferenzen. Zum anderen liegt die Annahme nahe, dass sie dem Gesprächspartner doch ebenso intuitiv einleuchten müssten wie einem selbst, zumindest nach wenigen Worten wie im Gespräch mit gleichgesinnten Freunden. Beides ist nicht der Fall.
Stattdessen reden wir oft vollständig aneinander vorbei. Der eine findet: Was im Netz zu sehen sein dürfe, ließe sich vollständig durch wissenschaftliche Klärung der Frage erledigen, ob das Betrachten von Gewalt und Pornographie zu mehr Straftaten und sittlicher Verlotterung führe – alles andere sei Privatsache. Dem anderen verursachen solche Darstellungen ein grundsätzliches Unwohlsein in der Bewertungsregion, die Haidt mit Reinheit/Heiligkeit bezeichnet: Sie entwürdigen den menschlichen Körper, das Zusammenleben und die Idee der Liebe.
Es gibt laut Haidt keine Regel, nach der man herleiten könnte, welche der sechs Module
in Wirklichkeit
wichtiger sind als andere. Jeder hat seine eigenen Prioritäten. Die einen wollen lieber auf dem Land und die anderen lieber in der Stadt wohnen, ohne dass man sagen könnte, ob nun Stadt- oder Landleben die beste Lösung für alle Menschen ist. Es ist auch nicht «richtiger», alle sechs Werte gleich wichtig zu nehmen. Aber in Auseinandersetzungen hilft es, wenigstens zu ahnen, was im eigenen und im fremden Kopf vor sich geht. Ein Gesprächspartner, in dessen Wertesystem Freiheit die wichtigste Rolle spielt, ist taub für den argumentativen Ansatz, Freiheit sei nicht so wichtig wie zum Beispiel der Minderheitenschutz (Haidts Modul Nr. 1 ) oder das Einhalten bestehender Gesetze (Nr. 4 ), auch wenn diese Gesetze vielleicht mangelhaft sein mögen. Man wird sich in diesem Fall eventuell verständigen können, indem man diskutiert, ob und wann bestimmte Freiheiten die Freiheit anderer Menschen einschränken. Wer dem Diskussionspartner stattdessen erklärt, sein Ideal der Freiheit sei gar nicht so wichtig, kann ihn auch gleich mit dem Sandschäufelchen hauen. Die Aussichten, ihn so von der eigenen Meinung zu überzeugen, sind ungefähr gleich groß.
Wie also kann überhaupt so etwas wie ein Konsens gefunden werden, wenn es dem Standard unseres Denkens entspricht, die passenden Beweise erst nachträglich gemäß den eigenen Empfindungen zu organisieren? Um das herauszufinden, ist es hilfreich, dem Gehirn ein bisschen genauer bei der Arbeit zuzusehen: Menschen, die andere Meinungen vertreten, haben eventuell trotzdem recht, auch wenn es auf
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