Internet – Segen oder Fluch
also nicht wesentlich länger als 10 Jahre her, als wir zuhause nur die Badischen Neuesten Nachrichten hatten, es in Kirrlach keine
taz
zu kaufen gab, und mein Deutschlehrer seine gelesenen Zeitungen für uns in die Schulbibliothek gelegt hat –
das
war Bubble!» In Zeitungen, Buchhandlungen, Bibliotheken und im Radio konnte aus Zeit- und Platzgründen schon immer nur ein kleiner Teil der kulturellen Produktion berücksichtigt werden. Auch Reiseführer sind eine klassische Filterbubble mit erheblichen Folgen. Technisch gesehen ist es durch das Netz viel leichter geworden, sich mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Das macht es schwieriger zu rechtfertigen, warum wir es nicht tun.
Im Nebenberuf vertritt die Filterbubble außerdem die alte Angst, etwas zu verpassen. Nachdem die umfassenden Informationsströme des Internets die theoretische Möglichkeit mit sich bringen, wirklich alles mitzukriegen, was man mitkriegen wollen könnte, sucht sich diese Angst neue Kanäle. Einer davon ist die Idee der Filterbubble, die einem suggeriert, man habe zwar alle gewünschten Quellen im Blick, aber die Filter falsch justiert, ohne es zu bemerken.
Nicht nur die Regeln, nach denen Maschinen die Welt für uns filtern, geben Anlass zur Kritik, auch die Regeln im menschlichen Kopf lassen zu wünschen übrig. Der oben erwähnte Vorwurf, Empfehlungsalgorithmen zögen nicht in Betracht, dass sich der Mensch und seine Interessen auch mal ändern können, ist nicht nur technisch falsch. Er ist auch insofern ungerecht, als ja auch Menschen nicht gerade häufig das Bild auffrischen, das sie sich von ihren Freunden und Verwandten einmal gemacht haben. Jahrzehntelang bekommt man die Nussschokolade geschenkt, die man mochte, als man neun war. Oder die Musik, die man mit fünfundzwanzig gut fand. Misstrauen ist nicht nur bei den Informationen angebracht, die uns andere Menschen vorsetzen, sondern ebenso sehr bei denen, die wir uns selbst verschaffen oder eben nicht verschaffen.
Auch neigen wir dazu, die Übereinstimmung unserer Ansichten mit denen unserer Freunde zu überschätzen, einfach deshalb, weil wir im Gespräch mit ihnen kontroverse Themen vermeiden oder schnell entschärfen (Ausnahme: im Kreise der Verwandtschaft nach dem achten alkoholischen Getränk). Das ist im Netz anders, weil sich ein Mensch, der etwas über sich in ein Blog oder soziales Netzwerk schreibt, ja nicht speziell auf die Interessen eines bestimmten Freundes einstellt. Schon unsere engsten Freunde erweisen sich in so vieler Hinsicht anders als wir selbst, dass wir Jahre bräuchten, um auch nur diese Bubble wirklich auszuloten. Die Diskussion über die Filterbubble ist eine Projektion innerer Probleme nach außen, in der Hoffnung, der Gesetzgeber oder sonst jemand könnte etwas gegen unsere Bequemlichkeit und unsere Wahrnehmungsverzerrungen tun.
Manche Vorwürfe an Filter- und Empfehlungsalgorithmen könnten etwas besser durchdacht sein. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Systeme in vieler Hinsicht problematisch sind. Sie sind intransparent, und die fehlende Transparenz macht es Anbietern zu leicht, ihre eigene Agenda in die Ergebnisse einfließen zu lassen. Die Nutzer erfahren nicht, warum etwas empfohlen oder weggefiltert wird, und häufig gibt es wenige oder gar keine Einstellungsmöglichkeiten. Das ist für den Nutzer zwar bequem, aber wenn er merkt, dass ihm Informationen vorenthalten werden, und er nicht weiß, wie er diesen Zustand ändern kann, führt das schnell zu Frustration [102] . Umgekehrt will kein Nutzer beim Start eines neuen Dienstes erst mal alle möglichen Einstellungen vornehmen, und auch danach ist es keine triviale Aufgabe für Anbieter, diese Einstellungen gleichzeitig feinjustierbar und überschaubar zu halten [103] . Gerade wenn die Möglichkeiten des Missbrauchs durch die Anbieter so auf der Hand liegen wie im Zusammenhang mit Filter- und Empfehlungssystemen, ist die systemadministrokratische Haltung «Wir machen es schon richtig, der Nutzer hat das hinzunehmen und soll uns gefälligst vertrauen» nicht angebracht.
Es ist zwar ein Fortschritt, wenn Anbieter Nutzern die Möglichkeit geben, Empfehlungen zu verstehen und zu beeinflussen, wie Amazon das mit «Warum wurde mir das empfohlen?» und «Diesen Artikel nicht mehr für Empfehlungen berücksichtigen» tut. Man darf diese Optionen aber nicht mit Transparenz verwechseln. Die Angabe «Wir haben Ihnen Artikel A empfohlen, weil Sie Artikel B gekauft
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