Internet – Segen oder Fluch
nicht dabei bin? Wenn ein bis dahin für klug gehaltener Freund im Netz etwas vollkommen Geistesgestörtes von sich gibt, also zum Beispiel für oder gegen Urheberrechtsreformen ist, dann schreiben Sie diesen Freund nicht gleich ab. Es ist keine neue Information, in deren Licht Sie jetzt Ihre Meinung über den alten Freund revidieren müssen. Der Freund ist so, wie er immer war, also vermutlich weiterhin schlau. Nur Ihr Wissen über das Thema ist unzulänglich, wenn Sie annehmen, man könnte nicht gleichzeitig intelligent sein und diese absurde Meinung vertreten. Nutzen Sie die Chance: Ein Mensch, den Sie schätzen und ansonsten für schlau halten, kann Ihnen vielleicht die Welt auf eine Weise erklären, die Sie bisher nicht annehmen wollten.
Neue Angebote nutzen, solange sie noch neu sind
Wenn Sie wenig Zeit haben, sind kluge, kontroverse Debatten der schnellste Weg zu den Argumenten der Gegenseite. Es gibt Angebote mit intelligenter Debattenkultur im Netz, aber man muss sie mühsam suchen. Am einfachsten geht es, wenn man neue Angebote nutzt. Sie sind wie neu eröffnete Restaurants, in dem das Essen noch gut und billig und das Personal freundlich ist. Man knüpft Kontakt zu Unbekannten, alle schreiben klug und konstruktiv, weil sie einander noch nicht kennen und einen guten Eindruck machen wollen. Zum guten Ton gehört dabei allerdings auch, dass man sich irgendwann schweigend wieder verabschiedet und nicht noch jahrelang die von Nachzüglern überlaufenen Gegenden mit «Ach, früher! Früher waren die Diskussionen hier viel intelligenter!» vollkommentiert.
Leicht gewonnenen Debatten und dummen Umgebungen misstrauen
Wenn alle um Sie herum Ihnen recht geben oder nur dumme Argumente vorbringen, haben Sie sich wahrscheinlich mit schwachen Gegnern umgeben oder halten sich an einem Ort auf, an dem es nur solche gibt. Dass Sie am richtigen Ort sind, merken Sie daran, dass die Auseinandersetzung kompliziert ist, dass Sie nachdenken müssen und nicht automatisch gewinnen.
Dem Wunsch misstrauen, einen Link zu teilen
Denken Sie an die modernen Legenden von der Spinne in der Yuccapalme zurück: Wir erzählen nicht unbedingt das gern weiter, was uns und die anderen klüger macht, sondern stattdessen das, was unsere Vorurteile oder unser Wunschdenken illustriert. Verlinkungszurückhaltung ist insbesondere geboten bei Berichten, in denen amerikanische Wissenschaftler per Neuroimaging herausgefunden haben, dass Ihre politischen Gegner ängstlicher, dümmer oder neurotischer als die Anhänger Ihrer Lieblingspartei sind.
Auch scheinbar schlechten Empfehlungen von Algorithmen folgen
Die besten, horizonterweiterndsten Empfehlungen sehen auf den ersten Blick ganz falsch und abwegig aus. Sonst würden sie ja den Horizont nicht erweitern. Das heißt nicht, dass alle falsch und abwegig daherkommenden Empfehlungen in Wirklichkeit sehr gut sind. Aber man sollte zumindest die Möglichkeit im Auge behalten.
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16. Maschinenherz
Von Technikabhängigkeit und der unmittelbar bevorstehenden Herrschaft der Maschinen
Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, dass die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt – ein Resultat des wechselseitigen Austausches von Atomen – und Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind.
Flann O’Brien, «Der dritte Polizist», deutsch von Harry Rowohlt
Der Ursprung der Idee einer Übermacht der Maschinen ist recht offensichtlich. Schon mit der Erfindung der ersten technischen Geräte wurde deren Überlegenheit in Sachen Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer unübersehbar. Jede Seilwinde führt vor, wie schwach des Menschen Arm ist und wie stark ein paar mechanische Bauteile im Verbund sein können. Mit der Erfindung der Dampfmaschine und des Elektromotors hat sich die Überlegenheit noch verstärkt, mit dem Computer ist sie in Bereiche vorgedrungen, die der Geistesarbeit ähneln. Mit der digitalen Vernetzung schließlich sieht man sich nicht mehr nur einer Maschine gegenüber, sondern Millionen vernetzten Geräten gleichzeitig, gewissermaßen der Gesamtheit aller Maschinen, einer Übermaschine.
Die Populärkultur bedient sich der Angst vor einer zukünftigen Maschinenmacht erfolgreich. In den erfolgreichsten
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