Internet – Segen oder Fluch
Journalist und Informatiker David Gelernter griff 2010 in der
FAZ
Weizenbaums Befürchtung wieder auf: «Weil viele der Softwaremodelle, auf die wir uns verlassen, zu komplex sind, als dass die Öffentlichkeit sie verstehen könnte – und oft auch zu komplex, als dass irgendjemand sie verstehen könnte –, ähneln die Urteile, die sie uns verkünden, den unerfindlichen bürokratischen Diktaten eines kafkaesken Staats, denen fraglos Folge zu leisten ist, obwohl keiner sie erklären kann.» Gelernter bezog sich dabei unter anderem auf Klimaprognosen, aber ob diese Prognosen das zukünftige Wetter richtig vorhersagen oder ob etwa Filmempfehlungssoftware passende Vorschläge macht, lässt sich relativ leicht überprüfen. Den empfohlenen Film sieht man sich an, beim Klima stellt sich die Treffsicherheit nach ein paar Jahren auf natürliche Weise heraus. Nebenbei sind Empfehlungen keine Befehle. Es gibt auf jedem Gebiet mehr als einen Anbieter – außer vielleicht bei Suchmaschinen, wo Google derzeit keine ernsthafte Konkurrenz hat. Und die Auswirkungen der Google-Personalisierung sind bisher sehr überschaubar, wie jeder durch Vergleich einer Google-Suche am eigenen und am Rechner eines anderen Menschen feststellen kann.
Das alles muss nicht heißen, dass die Skeptiker unrecht haben. Wo heute noch kein konkretes Problem besteht, kann morgen eines auftauchen. Auf jeden Fall aber deutet das Missverhältnis zwischen der Intensität der Debatte und der Spärlichkeit konkreter Belege darauf hin, dass es ein Bedürfnis nach der Auseinandersetzung gibt. Das Konzept der Filterbubble und der verallgemeinernde Begriff «Algorithmus» sind Henkel, an denen wir verschiedene abstrakte Probleme zu greifen versuchen: den Widerwillen gegen heimliche Beeinflussung und Eingriffe in die eigene Autonomie. Das Misstrauen gegenüber bestimmten Autoritäten bei gleichzeitigem Wunsch nach anderen, verlässlicheren. Und die Ahnung, dass auch das eigene Gehirn womöglich voreingenommene Filtersysteme einsetzt.
Die Angst vor der *Pepsi* heimlichen Manipulation
Die Vorstellung, manipuliert zu werden, ist allgemein unbeliebt, und zwar vor allem dann, wenn diese Beeinflussung heimlich geschieht. Die Aufregung über Werbung ist nicht besonders groß, obwohl sie Menschen ziemlich erfolgreich zu einem bestimmten Verhalten bewegen kann – die Industrie gibt schließlich nicht nur auf gut Glück weltweit um die 500 Milliarden Euro pro Jahr für sie aus. Dass wir uns daran weniger stören, liegt vielleicht daran, dass es Werbung schon so lange gibt und wir uns an sie gewöhnt haben, vielleicht aber auch daran, dass die Manipulation so transparent und sichtbar stattfindet und es sich so anfühlt, als träfen wir die Kaufentscheidung immer noch selbst. Selten gibt jemand zu, ein Produkt zu kaufen, weil er Werbung dafür gesehen hat. Werbung beeinflusst höchstens die anderen, man selbst ist ein bewusster Konsument und immun gegen billige Manipulationen. Es ist wie bei einem Zauberkünstler, der vorher demonstriert, dass die magische Schwebekugel nur eine einfache Schöpfkelle ist, und dessen Tricks wir trotzdem applaudieren.
Ein Vorläufer der heutigen Debatte über die unmerkliche Steuerung unserer Informationsströme ist die Diskussion um «subliminale Werbung», die der Journalist Vance Packard 1957 mit seinem Bestseller «Die geheimen Verführer» lostrat. Im Rahmen einer Studie, berichtete Packard, seien während eines Films millisekundenlang Werbebotschaften gezeigt worden, die das Publikum zum Kauf von Coca-Cola und Popcorn bewogen hätten.
«Es gehört nicht viel Phantasie dazu», schrieb der
Spiegel
1958 , «sich vorzustellen, dass die Aufforderung an das Unterbewusstsein der Kinobesucher oder Fernsehteilnehmer eines Tages nicht auf Harmlosigkeiten wie die Order beschränkt bleiben müsste, Coca Cola zu trinken. Zahlreiche Amerikaner befürchten denn auch einen Missbrauch der Unterbewusstseins-Werbung: Eine Partei könnte etwa dem Publikum suggerieren, es habe Ike zu lieben, oder die Sowjetführer könnten ihrem Volk die Ansicht aufzwingen, es müssten Atombomben auf Washington geworfen werden.» In den USA verpflichteten sich die TV - und Rundfunkverbände 1958 , die «unkontrollierbare Unterbewusstseins-Werbung» zu unterlassen, in Großbritannien und Australien wurde sie ganz verboten. Auch im deutschen Rundfunkstaatsvertrag (§ 7 , Punkt 3 ) steht: «In der Werbung und im Teleshopping dürfen keine Techniken der unterschwelligen
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