Internet – Segen oder Fluch
haben» ist eine extreme Vereinfachung der komplexen Vorgänge innerhalb des Empfehlungssystems. So eine Auskunft beruhigt den Nutzer, sie hindert den Anbieter aber nicht im Geringsten daran, bestimmte Produkte in den Vordergrund zu rücken, wenn das in seinem Interesse liegt.
Die Systeme sind immer noch zu schlicht konstruiert. Technikskeptikern zufolge wird sich daran auch nie etwas ändern, weil die Komplexität des menschlichen Verhaltens sich nicht sinnvoll in einem mechanischen System ausdrücken lässt. Der optimistische Einwand «Ja, die
jetzigen
Empfehlungs- und Filteralgorithmen sind noch nicht so schlau, aber das sind nur Kinderkrankheiten» ähnelt dem Argument, der Kommunismus sei eigentlich eine gute Idee und nur bisher immer ungeschickt durchgeführt worden. Dafür, dass an solchen Empfehlungssystemen seit mittlerweile zwanzig Jahren geforscht wird, ist die Qualität der Ergebnisse auch bei finanziell gut ausgestatteten Unternehmen wie Amazon bescheiden. Selbst dort, wo es unmittelbar um bares Geld geht, versagen solche Systeme erschütternd oft. Viele Werbebanner werden interessegesteuert nach vergleichbaren Methoden eingeblendet, und doch bekommt man immer wieder den Kauf der neuesten Justin-Bieber-Live- DVD vorgeschlagen. Es bleibt also bis auf weiteres Geschmackssache, ob man in personalisierten Empfehlungen die Zukunft sehen möchte oder nicht.
Optimisten neigen dazu, sich vom Computer Auskünfte über rationale Wahrheiten zu erhoffen, auf die das System vermeintlich direkten Zugriff hat. Aber hinter dem Algorithmus steht immer noch ein Mensch, oder realistischer: eine Gruppe von Menschen, die sich das Regelwerk ausgedacht hat. Und auch kollaborative Filter können nur die Daten auswerten, die das Verhalten der Nutzer eben hergibt. Dieses Verhalten unterliegt aber weiterhin vor allem den Einflüssen herkömmlicher Bestsellerlisten, Marketingmaßnahmen, Mainstreammoden und Ländergrenzen.
Immerhin ist das Bild von der Welt, das die technischen Filtersysteme liefern, nicht auf ganz dieselbe Art verzerrt wie das Weltbild in den menschlichen Köpfen oder die Ergebnisse konkurrierender Filter [104] So sind etwa die eigenen Vermutungen darüber, was ein Mitmensch sich zum Geburtstag wünschen könnte, nicht selten von den Interessen des Schenkenden geprägt: «Ich habe dieses Buch gern gelesen, also gefällt es dir bestimmt auch.» Wer im Netz Angebote nutzt, die sichtbar machen, welche Bücher, Musik, Filme die Freunde konsumieren, wird feststellen, dass eine solche Übereinstimmung der Vorlieben eher Wunsch als Wirklichkeit ist. Empfehlungsplattformen unterscheiden aus gutem Grund zwischen «Freunden» und «Geschmacksnachbarn». Ein Empfehlungssystem, auch wenn es als unpersönliche Ansammlung von Nullen und Einsen daherkommt, drückt die menschenfreundliche Absicht aus, genauer herauszufinden, was sich der Empfänger eigentlich wünscht, anstatt sich daran zu orientieren, was der Empfehlende gern hätte oder was für ihn am bequemsten ist.
Die Frage ist nicht, welches System die Welt ein für alle Mal so darstellen wird, wie sie wirklich ist. Eine ungefilterte Welt gibt es nicht. Aber es gibt immerhin heute mehr Möglichkeiten denn je, sie abwechselnd durch verschiedene Filter zu betrachten. Mit Hilfe einer Mischung verschiedener Strategien lassen sich unterschiedliche Ansichten der Informationslandschaft um uns herum erzeugen, die sich gegenseitig ergänzen. Wir können von niemandem ein neutrales Web einfordern. Wir können nur aktiv versuchen, mehrere Seiten eines Sachverhalts zu betrachten. Das war noch nie leicht, es ist aber zumindest in letzter Zeit auch nicht schwieriger geworden.
Wenn die Debatte um die Filterbubble eines Tages aus der Mode kommt, wird das Problem dahinter nicht etwa verschwinden. Die Frage, in welchen Situationen wir unser Leben autonom gestalten, wann wir von außen beeinflusst werden und welche dieser Einflüsse uns bewusst sind, wird aus dem zerfallenden Körper der alten Debatte herausfahren und in einen neuen, jungen hineinschlüpfen. Dieser junge Körper hat voraussichtlich mit einer Innovation zu tun, die heute schon existiert und dann im Massenmarkt angekommen sein wird. Sobald der lange angekündigte intelligente Kühl- oder Kleiderschrank wirklich anfängt, sich mit dem Internet zu verbinden und selbständig neu zu befüllen, wird Shopping seinen Ruf als Freizeitspaß medienmanipulierter Konsumopfer verlieren und zum Symbol für die heile Einkaufswelt
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