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Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Titel: Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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erinnert mich an die Denkansätze und Lehren der modernen Psychologie, und es ist höchst erstaunlich, dass man schon vor über tausend Jahren derartige Ideen hatte.
     
    Was auf mich großen Eindruck gemacht hat, ist die Menschlichkeit des Bardo Thödol. Die Hinterbliebenen bemühen sich über den Zeitraum von neunundvierzig Tagen um das Seelenheil des Verstorbenen. Jeden Tag soll ja aus den Texten vorgelesen werden,
je mehr, desto besser. Über Stunden kann sich also die tägliche Beschäftigung mit dem Toten hinziehen. Was durchaus auch hilfreich für die Hinterbliebenen ist. Der Abschied kann so leichter fallen, die Trauer wird vielleicht erträglicher. Außerdem vermittelt es den Angehörigen ein gutes Gefühl, noch etwas für den Verstorbenen tun zu können. In unserer modernen westlich Welt wird gestorben, beerdigt – und das war es. Nur in der katholischen Kirche finden wir noch einen Rest von Fürsorge für die Dahingeschiedenen, und zwar in Form der so genannten Seelenmessen.
    Darüber hinaus gemahnt das Totenbuch den Leser und die lebenden Zuhörer unaufhörlich, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden. Bei mir war das nun gerade nicht nötig, aber grundsätzlich hat eine solche Ermahnung sicher zur Folge, dass das Leben an sich noch mehr geschätzt und geehrt wird und die Sorgen des Alltags eher in den Hintergrund treten.
     
    Aber – und nun kommt das große Aber. Eine Frage überstrahlte die gesamte Lektüre des Tibetischen Totenbuches. Ich konnte mich ihr erwartungsgemäß nie entziehen:
     
    Woher weiß der Verfasser all das, was angeblich nach dem Tod mit dem Menschen geschieht? Woher nur?

     
    Diese entscheidende Frage wird leider nicht beantwortet. Und damit sind wir tief im Bereich des Religiösen. Man glaubt daran – oder man lässt es sein. Darüber zu diskutieren ist sinnlos.
    Oder man schließt sich der Sichtweise des berühmten Psychiaters und Psychoanalytikers C. G. Jung an.
    In einem Kommentar zu der oben erwähnten Übersetzung des Totenbuches von Evans-Wentz schreibt Jung:
    »... Den höchsten geistigen Aufwand zugunsten der Abgeschiedenen aber stellen die Belehrungen des Bardo Thödol dar. Sie sind dermaßen eingehend und den anscheinenden Zustandswandlungen des Toten angepasst, dass jeder ernsthafte Leser sich die Frage vorlegt, ob nicht am Ende diese alten lamaistischen Weisen doch einen Blick in die vierte Dimension getan und dabei einen Schleier von großen Lebensgeheimnissen gelüftet hätten.«

    Gesprächsprotokoll
    Ich möchte nun einige Begriffe in den Raum stellen und bitte dich, sie zu kommentieren.
    Gut, beginne.
    Karma.
    Oh, ein moralischer Begriff. Er besagt, wenn du dich ordentlich verhältst, wirst du eine gute Wiedergeburt erlangen – oder sogar mehr.
    Was die Menschen sich so alles ausdenken! Es ist wie mit der Sünde. Da heißt es: Wenn du nicht sündigst, kommst du in den Himmel. Nein, mein Freund, das alles ist Kinderglaube.
    Kinderglaube?
    Ein im Grunde viel zu harmloses Wort. Denn dieser Glaube fesselt und ängstigt die Menschen.
    Er setzt eine bewertende und richtende Instanz voraus. Die aber gibt es nicht. Die Moral ist eine irdische Erfindung.
    Aber das würde ja bedeuten, alles ist egal – und ich kann tun, was ich will?

    Keineswegs. Du scheinst vergessen zu haben, was ich dir über die Liebe erzählt habe. Erinnere dich. Im Übrigen ist nicht das Tun der Weg – sondern das Lassen.
    Kurze Gesprächspause
    Den nächsten Begriff hast du selbst gerade schon erwähnt:
    Wiedergeburt.
    Hier verhält es sich wie mit der Auferstehung. Es sind Hoffnungsbilder verschiedener Religionen. Sie versuchen, die Angst vor mir erträglicher zu machen, indem sie den Menschen vorgaukeln, ihr Ich sei von Dauer – über den Tod hinaus. Beide Vorstellungen sind erwachsen aus der Egozentrik und dem Narzissmus des Menschen, und der Glaube an Wiedergeburt oder Auferstehung sind die wichtigsten Säulen der Religionen.
    Also gibt es keine Wiedergeburt?
    Habe ich den Menschen umfasst, zerfällt seine personale Struktur. Und wo kein Ich, da keine Wiedergeburt.
    Ein weiterer Begriff:
    Schuld.
    Was ist los mit dir? Du scheinst zu viele religiöse Bücher gelesen zu haben ... Aber gut, ich will dir antworten: Achte alle Lebewesen und sei mitfühlend – jetzt!
    Wie bitte? Ich verstehe nicht. Ich hatte dich nach Schuld gefragt.
    Ja, und das ist meine Antwort.
    Eine merkwürdige Antwort. Dann frage ich konkreter: Wie soll ich mit Schuld oder sogar großer Schuld

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