Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
wurde es von dem amerikanischen Anthropologen Walter Yeeling Evans-Wentz für die westliche Welt entdeckt und erschlossen. Er hat das Buch unter Anleitung eines tibetischen Gelehrten ins Englische übersetzt und zunächst in den USA veröffentlicht. Im Vorwort zur dritten englischen Auflage 1955 schreibt Evans-Wentz: »Die Botschaft dieses Buches ist, dass die Kunst des Sterbens ebenso wichtig ist wie die Kunst zu leben ... ferner, dass das künftige Dasein vielleicht sogar ganz abhängt von einem richtig gemeisterten Tod ...«
Dazu muss erklärt werden, dass der tibetische Buddhismus
und so auch das Bardo Thödol fest in der Reinkarnationslehre verwurzelt sind. Ohne den Glauben an die Wiedergeburt gäbe es vermutlich kein Totenbuch. Wobei allerdings das große Hauptanliegen des Bardo Thödol darin besteht, genau diese Wiedergeburt zu verhindern und es dem Verstorbenen zu ermöglichen, ins Nirwana einzugehen. Denn Wiedergeburt bedeutet Leid, Anstrengung, Mühsal und erneuten Tod. Nirwana hingegen Erlösung und ewiges Glück. Aber eins nach dem anderen.
Zunächst noch eine Begriffserklärung. Bardo bedeutet »Zwischenzustand« und umfasst die Zeitspanne vom Moment des Todes bis zur Wiedergeburt beziehungsweise bis zum Eintritt ins Nirwana.
Der Bardo dauert nach der Lehre des Tibetischen Totenbuches maximal neunundvierzig Tage an. Während dieses gesamten Zeitraumes sollte dem Verstorbenen aus dem Totenbuch vorgelesen werden. Zuerst in der unmittelbaren Nähe des Sterbenden bzw. des Leichnams, später, nach dessen Beisetzung, in einer der Angelegenheit würdigen Räumlichkeit oder auch im Freien. Denn man geht davon aus, dass die Seele des Toten während dieser Zeit alles hört und unter ungünstigen Umständen bis zum neunundvierzigsten Tag in Aufruhr ist, in der Zwischenwelt umherirrt und sich gegen Dämonen und finstere Götter zur Wehr setzen muss. Das Vortragen der heiligen Texte soll dem Verstorbenen helfen, Orientierung im Bardo zu
finden. Im besten Fall kann die Seele ins Nirwana eingehen, im ungünstigsten Fall kommt es zu einer schlechten Wiedergeburt, zum Beispiel im Tierreich. Viel hängt davon ab, wie der Verstorbene sich im Bardo verhält. Schafft es seine Seele nicht, ins Nirwana einzugehen, so gilt es, als Mensch in guten Verhältnissen wiedergeboren zu werden. Die Wiedergeburt als Tier wird als Nachteil oder gar Strafe für schlechte Taten angesehen. Wobei klarzustellen ist, dass es im Buddhismus keine individuelle menschliche Seele gibt, so wie wir sie uns in der christlichen Tradition vorstellen. Was dann allerdings konkret wiedergeboren wird und sich zuvor im Bardo aufgehalten hat, ist mir bis heute nicht wirklich klar.
Das Vorlesen aus dem Bardo Thödol beginnt in der Sterbestunde am Totenbett unter anderem mit folgenden Worten:
»Wohlgeborener Freund, jetzt ist die Zeit gekommen. Deine Atmung wird gleich aufhören. Du bist im Begriff, die Schwelle zu dem Zustand zu überschreiten, den man gemeinhin Tod nennt. Sage jetzt zu dir selbst: Die Stunde meines Todes ist da. Ich will diesen Tod ausnützen, um die völlige Erleuchtung zu erlangen, zum Wohle aller Lebewesen.
Wohlgeborener Freund, du machst jetzt die Erfahrung des absolut klaren Lichts. Dein Bewusstsein bildet mit dem strahlenden und ekstatischen Bewusstsein an sich
eine Einheit. Es kennt nun weder Geburt noch Tod. Es ist das Licht, das sich nie wandelt. Wenn du die Leere deines Bewusstseins als Erleuchtung erkennst, brauchst du dich nur mehr in dich selbst versenken, um erleuchtet zu werden ...«
Während dieser Ansprache ist der Sterbende auf die rechte Seite zu legen und der Vorleser presst die Arterien rechts und links der Kehle sanft zusammen. Dies soll bewirken, dass die restliche Lebenskraft nicht in die Energiekanäle der Wirbelsäule zurückfließt, sondern durch die so genannte brahmanische Öffnung im Schädel entweichen kann.
Ein besonders begabter und spiritueller Mensch ist in der Lage, bereits nach diesen wenigen Belehrungen die Erlösung zu erlangen. Er geht ins Nirwana ein und erfährt somit Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Laut Tibetischem Totenbuch wird dieses Glück aber nur sehr wenigen Personen zuteil. Die meisten Menschen sind direkt nach ihrem letzten Atemzug verwirrt und wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Sie können nicht einmal beurteilen, ob sie nun tot sind oder noch leben. Sie sehen und hören, was um sie herum geschieht, können nichts einordnen und geraten bald in große
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