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Intimitaet und Verlangen

Intimitaet und Verlangen

Titel: Intimitaet und Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schnarch
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Verweis auf die Möglichkeit einer »Win-Win-Lösung« klingt zwar vernünftig, ist aber in Wahrheit naiv. Menschen mit geringer Differenzierung nutzen keine »Win-Win«-Strategien, wenn sie mit Entscheidungsdilemmata konfrontiert werden, weil dies bedeutet, dass sie etwas »einstecken« und etwas, das ihnen wichtig ist, aufgeben müssen. Wahrscheinlicher ist, dass sie ihrem Partner in solchen Fällen die Wahlmöglichkeiten stehlen. Je schwächer die Vier Aspekte der Balance bei einem Menschen sind, umso eher fühlt er sich zum Stehlen von Wahlmöglichkeiten berechtigt. »Win-Win-Lösungen« liegen ganz einfach außerhalb des Verständnisvermögens vieler Menschen.
    Tom vermied seine Entscheidungsdilemmata und stahl auf diese Weise Helen die Wahlmöglichkeit. Statt seine Partnerin freizugeben und sie ihre Vorstellungen vom Leben verwirklichen zu lassen, versuchte er, ihr Schuldgefühle zu vermitteln, weil sie darüber nachdachte, ihn zu verlassen. Statt sich mit sich selbstauseinanderzusetzen und eine Entscheidung zu treffen, bat er sie immer wieder, ihm mehr Zeit zu lassen – die er dann regelmäßig nicht nutzte.
    Entscheidungsdilemmata zu umgehen ist im übrigen auch ein Beispiel für das Ausborgen von Funktionsfähigkeit, durch das es zu emotionalen Pattsituationen kommt. Tom konnte deshalb »nicht herausfinden, was er wollte«, weil er genau dies wollte. So reinszenierte er die Dynamik, die seine Kindheit beherrscht hatte. Er erwartete von Helen, dass sie sich seinetwegen aufgab – so wie seine Mutter dieses Opfer von ihm erwartet hatte.
    Einige Menschen stehlen ihrem Partner die Entscheidungsalternativen aus Gehässigkeit oder Heimtücke. In anderen Fällen, so wie bei Tom, handelt es sich dabei um einen zentralen Bestandteil der emotionalen Dynamik der Betreffenden. Dies ist die pragmatischste und einfachste Methode, sich Entscheidungsdilemmata zu entziehen, mit denen man sich nicht konfrontieren will. Nun könnte man einwenden, dass zwischen dem Umgehen und Hinauszögern einerseits und dem Stehlen andererseits doch ein riesiger Unterschied bestünde – aber dem ist entgegenzuhalten, dass die Wirkung praktisch die gleiche ist. Selbst wenn es nicht in Ihrer Absicht liegt, Ihrem Partner die Wahlmöglichkeit zu stehlen, läuft das, was in solch einem Fall geschieht, trotzdem darauf hinaus, denn durch das Aufschieben von Entscheidungsdilemmata stehlen Sie Ihrem Partner im Grunde Zeit .
    Behandeln Sie Ihren Partner wie einen Freund?
    Die neuen Erkenntnisse, die Tom über seine Ursprungsfamilie gewonnen hatte, halfen ihm nicht sonderlich weiter. Er machte seinen Gefühlen seiner Mutter gegenüber gründlich Luft. Wir hörten ihn sogar Wut auf seinen Vater ausdrücken. Trotzdem veränderte er sich nicht sonderlich. Er verwandte zwar mehr Zeit darauf, sich zu fragen, was er eigentlich wollte, gelangte aber nicht zu neuen Antworten.
    Manchmal müssen Gespräche in der realen Welt stattfinden, um bei Menschen den Entwicklungsprozess in Gang zu setzen. So erging es Tom und Helen in der nächsten Sitzung. Als Erläuterung zum gerade hinter ihnen liegenden Wochenende erklärte Tom: »Wir sind gute Freunde, aber keine Liebenden.«
    Für Helen war das Maß allmählich voll. Sie sagte: »Ich will zwar unsere Freundschaft nicht beenden, aber das ist definitiv nicht, was ich will.«
    Ich sagte: »Wir sollten nicht annehmen, dass Sie beide Freunde sind. Das entspricht zwar vielleicht Ihrer Vorstellung von Liebe, aber ganz bestimmt lässt es sich nicht mit meinem Verständnis von Freundschaft vereinbaren.«
    Tom behielt seine defensive Reaktion unter Kontrolle. »Wollen Sie damit sagen, dass ich Helen nicht liebe?«
    Â»Ich sage, dass Sie Helen nicht wie eine Freundin behandeln. Und außerdem sage ich, dass dies möglicherweise wirklich Ihre Art zu lieben ist.« Es war schwer einzuschätzen, wer von beiden sich daraufhin betroffener fühlte. Helen fühlte sich erneut maßlos gedemütigt. Und Tom war sichtlich erschüttert.
    Helen konfrontiert sich mit ihrem Entscheidungsdilemma
    Wie kann man ein stabiles und flexibles Selbst entwickeln, das so stark ist, dass man es nicht mehr braucht, gebraucht zu werden? Man muss sich an diese Veränderung heranwagen, während man noch an sich selbst zweifelt. Manche Klienten sagen zu ihrem Partner: »Wenn du mich vorher

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