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Intimitaet und Verlangen

Intimitaet und Verlangen

Titel: Intimitaet und Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schnarch
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behalten, wenn Robert wütend geworden war. Sally fühlte sich ruhiger und stabiler, wenn sie Roberts Wünschen nachkam.
    Geborgte psychische Funktionsfähigkeit: Funktionsübertragung
    Robert und Sally sind ein gutes Beispiel für das, was ich Geborgte Funktionsfähigkeit oder Funktionsübertragung (engl.: borrowed functioning ) nenne. Dabei handelt es sich um einen Versuch, damit fertigzuwerden, dass das erste Selbst, das wir entwickeln, ein gespiegeltes Selbstempfinden ist. Von ihm sind wir abhängig, weil seine Herausbildung ein fester Bestandteil der menschlichen Entwicklung ist. Vom Säuglingsalter an bemühen wir uns darum, dass andere Menschen uns bei der Entwicklung von Selbstgewahrsein unterstützen. Wir sehen uns durch die Augen von Menschen, die uns wichtig sind. Wir verinnerlichen, wie andere Menschen uns sehen und behandeln und verstehen diese Wahrnehmungen anderer als Hinweise darauf, wie wir tatsächlich sind.
    Wenn wir erstmals erkennen, dass wir (ein) »selbst« sind, ruft dies bei uns nicht etwa Freude und Erleichterung, sondern Wut und Frustration hervor. Dies tritt ein, wenn uns klar wird, dass Mami und wir keine Einheit sind. Plötzlich gibt es ein »ich« und ein »du«. (Nach Martin Buber besteht diese Beziehung ursprünglich zwischen »ich« und »es«. 2 ) Wir erleben zum ersten Mal Selbst-Sein, wenn unsere Eltern oder eine andere Betreuungsperson nicht tut, was wir wollen. Solange wir uns wohl und genährt fühlen, wird uns nicht bewusst, dass wir und unsere Betreuungsperson nicht eins sind. Was ich hier beschreibe, ist nicht das ursprüngliche »Trauma« unseres Lebens, sondern einfach, wie die Dinge nun einmal liegen.
    Die psychische Funktionsfähigkeit ist deshalb »geborgt«, weil sie weder ein stabiles Selbstempfinden vermittelt noch an und für sich dauerhaft stabil ist. Sie gleicht sozusagen einem Ballon, den Ihr Partner aufbläst. Vielleicht sehen Sie kurzfristig besser aus, fühlen sich besser und handeln sogar besser, doch ist die Wirkung solcher Pseudo-»Selbst«-Transfusionen nicht von Dauer. Auch wenn Ihr Partner Ihnen nicht irgendwann »die Luft wieder rauslässt«, verlieren Sie im Laufe der Zeit so viel davon, dass Sie über kurz oder lang eine neue »Füllung« brauchen.
    Die Funktionsfähigkeit ist in solchen Fällen auch insofern »geborgt«, als durch diese Übertragung die Funktionsfähigkeit Ihres Partners sowie seine Resilienz und sein gespiegeltes Selbstempfinden verringert werden. Das wird nicht immer sofort deutlich, weil die Funktionsübertragung die Situation beider Beteiligter trotz ihres illusionären Charakters manchmal zunächst verbessert. Doch wenn der verlangensschwache Partner schließlich in Unsicherheit (und in eine latent-unterschwellige Trotzhaltung) verfällt, schwingt sich der verlangensstärkere Partner kraft Funktionsübertragung prachtvoll in die Höhen der Selbstgerechtigkeit empor. Wenn Partner einander in einer Beziehung wirklich helfen, zeigt die allmähliche Verbesserung ihrer Funktionsfähigkeit an, dass sie einander aufrichtig lieben. Der Unterschied zwischen echter Liebe und Zuneigung und dem, was Robert und Sally in ihrer Beziehung erlebten, ist daran zu erkennen, dass Sally emotional erschöpft war und Robert nur scheinbar Oberwasser behielt.
    Allerdings kann man aus der Tatsache, dass in Roberts und Sallys Beziehung die Funktionsübertragung eine wichtige Rolle spielte, nicht automatisch ableiten, dass ihre Beziehung keine echte Beziehung war. Eine Beziehung, für die Funktionsübertragung charakteristisch ist, ist eine Beziehung – und nicht nur das: Funktionsübertragungen gibt es in den meisten Beziehungen. Wenn Partner sich davon abhängig machen, dass andere ihr Selbstempfinden positiv spiegeln, besteht zwischen ihnen eine emotionale Verschmelzung . (Echte Interdependenz setzt eine stabile Identität voraus.) Bei Bestehen einer emotionalen Verschmelzung regulieren die Beteiligten ihre Emotionen (und ihr gespiegeltes Selbstempfinden) durch Interaktionen mit ihren Partnern, statt aufgrund ihres eigenen, stabilen Selbstempfindens allein damit fertigzuwerden. Von welchem Partner die Funktionsfähigkeit jeweils »geborgt« wird, hängt von den konkreten Umständen ab und kann wechseln. Allerdings ist eine solche Funktionsübertragungnur in einer echten Beziehung möglich, weil

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