Intimitaet und Verlangen
dadurch ebenfalls geschwächt. Das ist der Punkt, an dem Sie ins Spiel kommen.«
Als ich dies sagte, richtete Robert sich auf seinem Stuhl auf. Ich fuhr fort: »Der Partner mit dem stärkeren Verlangen fühlt sich in dieser Situation unerwünscht, unattraktiv und nicht geliebt. Er versucht, den verlangensschwächeren Partner als begehrenswerter hinzustellen, um sein eigenes schwächer werdendes Selbstwertgefühl zu stärken. Der Partner merkt dies und fühlt sich von der Unsicherheit des anderen abgestoÃen. So entsteht ein Teufelskreis, und die Situation wird immer schwieriger.
Die nächste Eskalationsstufe besteht darin, dass sich der verlangensstärkere Partner eine scheinbar âºaufgeklärteâ¹ Haltung zu eigen macht: Seine Partnerin hat offenbar ein Problem, und er möchte ihr helfen, es zu lösen. Deshalb bietet er ihr an, sie zu einer psychotherapeutischen Behandlung zu âºbegleitenâ¹. Doch sie empfindet es als herablassend, dass er so mit ihr umgeht und dadurch die Situation noch verschlimmert.« Robert lächelte. Sally war so erleichtert darüber, dass er auf diese Situationsbeschreibung hin nicht explodiert war, dass sie sich zu einem Kichern hinreiÃen lieÃ.
»Wenn der Partner mit dem stärkeren Verlangen seiner Partnerin Vorwürfe macht, löst sich auch der kleinste aufkeimende Anflug von sexuellem Verlangen augenblicklich in Luft auf, und die Partnerin reagiert verärgert und defensiv und verliert jede Motivation, positive Empfindungen zu entwickeln. Dies wiederum nimmt der verlangensstärkere Partner persönlich, und der Teufelskreis setzt sich in einer neuen Runde fort.«
»Kommt mir bekannt vor«, warf Robert ein.
»Im Laufe der Zeit weitet sich der Rückzug des verlangensschwächeren Partners zu einem Zustand emotionaler Tiefkühlung aus. Je katastrophaler die Beziehungssituation wird, umso nachdrücklicher besteht der verlangensstärkere Partner auf Sex: Er drängt seine Partnerin wie rasend zum Sex und zieht sich andererseits phasenweise immer stärker zurück.«
Robert und Sally tauschten wissende Blicke aus. Robert wirkte nun noch entspannter. »Warum kommt die verlangensschwächere Partnerin denn nicht einfach in die Gänge und unternimmt etwas?«
»Weshalb sollte sie das? Sie hat doch sowieso nichts Positives zu erwarten. Solange sie kein stärkeres Verlangen entwickelt, bekommt sie Vorwürfe zu hören. Wird ihr Verlangen stärker, heimst ihr Partner die Lorbeeren dafür ein â denn dann heiÃt es, schlieÃlich habe er ja das Verlangen in ihr entfacht. Wenn man weder etwas gewinnen noch etwas verlieren kann, ist man einfach nicht besonders motiviert, eine Situation zu verbessern. Eher tendiert man dann zu Rebellion und passiver Aggression.« Sally lächelte verlegen und errötete.
Sind Sie und Ihr Partner emotional siamesische Zwillinge?
Robert musste lächeln. »Okay. Das hat mich beeindruckt. Aber das klingt ja, als ob wir uns wie Automaten verhalten würden.«
»Wie die meisten Menschen, die in Partnerschaften leben, befinden auch Sie sich in einem Zustand emotionaler Verschmelzung , siamesischen Zwillingen ähnlich. Jede Bewegung des einen Partners wirkt sich auf das emotionale Gleichgewicht des anderen aus. Probleme, die das sexuelle Verlangen betreffen, erfordern keine Wut, keine Vendetta und keine böswillige Absicht. Sie wollen beide die Kontrolle über Ihr eigenes Leben haben. Wenn Sie so eng miteinander verbunden und emotional so verstrickt sind, wie es bei Ihnen der Fall ist, hat jede Bewegung â und auch jede nicht vollzogene Bewegung â des einen Partners weitreichende Konsequenzen für den anderen.«
Robert nickte. »Ist das nicht krank? Und ich dachte, wir hätten uns auseinandergelebt.«
»Der Zustand emotionaler Verschmelzung ist Normalität. Das Problem besteht nicht darin, dass Sie einander âºzu naheâ¹ sind, sondern dass Sie bezüglich der Aufrechterhaltung Ihres emotionalen Gleichgewichts zu stark voneinander abhängig sind. Wenn Sie sich auf ein gespiegeltes Selbstempfinden verlassen, haben Sie gar keine andere Möglichkeit , als an jemand anderem zu âºklebenâ¹. Der Zustand emotionaler Verschmelzung wird dann zu einer übergeordneten Notwendigkeit.
Sie und Sally gleichen zwei Geschäftsleuten, die intensiv miteinander verhandeln. Ist der eine mit dem Handel
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