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Intimitaet und Verlangen

Intimitaet und Verlangen

Titel: Intimitaet und Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schnarch
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    Mentales Spiegeln oder Mentalisieren hat also offensichtlich viel mit Verlangen zu tun.
    Für Kinder ist es wesentlich leichter, die Wünsche anderer Menschen zu verstehen, als ihre eigenen zu erkennen. Wenn wir herauszufinden versuchen, was jemand will (oder nicht will), benutzen wir die primitivsten Teile unseres Gehirns. Die eigenen Motivationen zu erkennen und uns über das Wissen und die Überzeugungen anderer Menschen klarzuwerden lernen wir später, wenn unser Gehirn und unsere soziale Intelligenz gereift sind. 23
    Im Alter von fünf Jahren erreichen wir einen wichtigen Wendepunkt, wenn wir begreifen, dass der Geist eines anderen Menschen eine falsche Überzeugung produzieren kann. 24 Als Kind lernen wir alternative mentale Welten und die Möglichkeit der Täuschung zunächst kennen, indem wir Ungenauigkeiten im Denken unserer Eltern und Selbsttäuschungen bei ihnen identifizieren. Tun wir beispielsweise zum ersten Mal etwas, das wir nicht tun »sollen« – etwa lügen –, und niemand merkt dies, wird uns klar, dass unsere Eltern nicht allwissend und nicht im Voll- und Alleinbesitz »der Wahrheit« sind. Wenn wir dann Eiscreme statt einer Strafe bekommen, wissen wir, dass die Urteile unserer Eltern auch unzutreffend sein können.
    Danach beginnen wir mit Versuchen, andere Menschen bewusst zu täuschen. Lügen (absichtliches Verbreiten von Falschinformationen) ist ein Indiz dafür, dass ein Mensch zu mentalem Spiegeln in der Lage ist. 25 Gute Lügner können wir nur sein, wenn wir zu erkennen vermögen, was im Geist anderer Menschen vor sich geht, denn nur dann merken wir, ob unsere Bemühungen erfolgreich waren. Wie das Schleifen eines Messers einen feineren Schnitt ermöglicht, verfeinert das Lügen die Fähigkeit zu spiegeln, was im Geist anderer Menschen vor sich geht. 26 Die Mentalisierungsfähigkeit ist im Alter von elf Jahren noch ausgereifter, und in der Adoleszenz findet eine erneute Verfeinerung statt. 27
    Ich erwähne dies alles, weil Sie und Ihr Partner einander ständig mental spiegeln – auch wenn es gar nicht so aussieht, als ob Sie dies täten. Doch viele Menschen tun so , als ob dies nicht der Fall wäre. Einige der besten »Geistspiegler«, die ich jemals kennengelernt habe, erweckten den Eindruck, dass sie nichts taten und dass sie nicht die leiseste Ahnung davon hatten, was tatsächlich im Gange war.
    Sind auch Sie ein »Geistspiegler«? Ich weiß, dass Sie es sind. Die Frage ist nur: Wie zutreffend ist das, was Sie spiegeln? Lassen Sie sich selbst wissen, was Sie sehen, oder machen Sie sich dagegen blind? Lassen Sie zu, dass Ihr Partner (und andere Menschen) Ihren Geist spiegeln?
    Mentalisieren bei Problemen mit dem sexuellen Verlangen
    Wenn Paare Probleme mit dem sexuellen Verlangen haben, erfüllt ihre mentale Einfühlung ihre Funktion nicht mehr. Zweifellos nutzen auch Sie das mentale Spiegeln, um herauszufinden, ob Ihr Partner Sie begehrt.
    Die Zielrichtung des mentalen Spiegelns verändert sich im Laufe der Entwicklung einer Beziehung und im Einklang mit ihren Phasen: Am Anfang wollen Sie in der Regel, dass Ihr Partner weiß, ob Sie ihn wollen oder nicht – denn wahrscheinlich wollen Sie ihn. (Falls Sie ihn nicht begehren, kaschieren Sie dies, um die Beziehung fortsetzen zu können.) Wenn Sie später die lähmende Wirkung sexueller Langeweile kennenlernen, versuchen Sie wahrscheinlich zu verhindern, dass Ihr Partner über die aktuelle Stärke Ihres sexuellen Verlangens ihm gegenüber informiert ist.
    Wenn Sie Ihren Partner nicht wollen, möchten Sie in der Regel auch nicht, dass er herausfindet, was in Ihnen vor sich geht. Das kann Ihre Beziehung entweder stabilisieren oder sie in einen letztlich nicht erstrebenswerten Zustand der Balance befördern. Lässt das Verlangen bei einem Partner (oder sogar bei beiden) nach, beginnen beide zudem, Informationen darüber zu sammeln, was im Geist des anderen vor sich geht – welche Gedanken, Gefühle und Motive der andere hat. Dieses undurchdringliche Gewirr liegt dem Phänomen des Sich-Auseinanderlebens zugrunde. (Im Sinne unserer momentanen Perspektive handelt es sich jedoch um eine Art emotionaler Verschmelzung. Das emotionale Gleichgewicht beider Beteiligten hängt davon ab, was nach ihrer Meinung im Geist des Partners vor sich geht.)
    Die Zielrichtung des mentalen Spiegelns kann im übrigen

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