Intrige (German Edition)
der Zar auf französischem Boden einem Anschlag zum Opfer fallen. Und die Gefahr ist durchaus realistisch. Erst vor fünfzehn Jahren wurde sein Großvater von Sozialisten in die Luft gesprengt, nur zwei Jahre nachdem unser Präsident von einem Anarchisten erstochen worden war.
Boisdeffre klopft auf den Plan. »Der erste Abschnitt der Strecke, hier, zwischen dem Gare du Ranelagh und der Porte Dauphine bereitet mir die größten Sorgen«, sagt er. »Die Erste Abteilung meint, wir brauchen zweiunddreißigtausend Mann, inklusive Kavallerie, nur um die Menschen in sicherem Abstand zu halten.«
»Hoffentlich kommen die Deutschen nicht auf die Idee, uns genau dann im Osten anzugreifen.«
»Wie wahr.« Boisdeffre hört auf zu schreiben und schenkt mir zum ersten Mal seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Also, Herr Oberstleutnant, was gibt es zu besprechen? Bitte.« Er setzt sich und deutet auf einen Stuhl ihm gegenüber. »Geht es um den Besuch des Zaren?«
»Nein, Herr General. Es geht um die Sache, über die wir nach Ihrer Rückkehr aus Vichy im Automobil gesprochen haben – um den mutmaßlichen Landesverräter Esterházy.«
Er benötigt einen Augenblick, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Ah, richtig, ich erinnere mich. Wie steht die Sache?«
»Wenn ich hier ein bisschen Platz schaffen dürfte …«
»Nur zu.«
Ich rolle den Stadtplan zusammen. Boisdeffre holt seine silberne Schnupftabakdose heraus. Er klopft einen kleinen Haufen auf den Handrücken und schnupft zwei schnelle Prisen, eine in jedes Nasenloch. Er schaut zu, wie ich meine Aktentasche öffne und die Schriftstücke für meine Präsentation herausnehme: das Petit Bleu, eine Fotografie des Bordereaus, Esterházys Briefe, in denen er sich um die Versetzung in den Generalstab bewirbt, die Überwachungsfotos von Esterházy vor der deutschen Botschaft, das Geheimdossier über Dreyfus und meinen vierseitigen Bericht über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Die Verwunderung auf seinem Gesicht wird immer größer. »Großer Gott, mein lie ber Picquart«, sagt er halb belustigt. »Was haben Sie da bloß getrieben?«
»Wir stehen vor einem ziemlich gravierenden Problem, Herr General. Ich halte es für meine Pflicht, Sie umgehend darüber zu informieren.«
Boisdeffre zuckt zusammen und wirft einen wehmütigen Blick auf den eingerollten Stadtplan. Es ist unverkennbar, dass er mit der ganzen Sache nichts zu tun haben möchte. »Also dann«, sagt er seufzend. »Wie Sie wünschen. Fahren Sie fort.«
Ich setze ihm die Lage Punkt für Punkt auseinander, erzähle ihm von dem abgefangenen Petit Bleu, meinen ersten Nachforschungen über Esterházy, die Operation Wohltäter. Ich zeige ihm die vor der Wohnung in der Rue de Lille aufgenommenen Fotos. »Hier sehen Sie, wie er die Botschaft mit einem Umschlag betritt, hier, wie er sie mit leeren Händen wieder verlässt.«
Boisdeffre beäugt kurzsichtig die Fotografien. »Mein Gott, was ihr heutzutage alles machen könnt!«
»Das Beruhigende an der Geschichte ist, dass Esterházy keinen Zugang zu wichtigen Geheimdokumenten hat«, sage ich. »Was er ihnen anzubieten hat, ist so belanglos, dass die Deutschen sogar den Kontakt zu ihm abbrechen wollen. Allerdings versucht Esterházy jetzt, seinen Wert als Spion zu steigern, indem er sich für eine Position im Ministerium bewirbt – wo er natürlich direkten Zugang zu Geheimdokumenten hätte.« Ich schiebe ihm die beiden Briefe hinüber.
»Wie sind Sie an die Briefe gekommen?«
»General Billot hat seine Untergebenen angewiesen, sie mir zu überlassen.«
»Wann war das?«
»Letzten Donnerstag.« Ich räuspere mich. Attacke! »Fast sofort fiel mir die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der Schrift in den beiden Briefen Esterházys und der in dem Bordereau auf. Hier, sehen Sie selbst. Da ich natürlich kein Handschriftenexperte bin, habe ich sie am nächsten Tag Alphonse Bertillon gezeigt. Sie erinnern sich …«
»Ja, ja.« Boisdeffre klingt plötzlich matt, wie betäubt. »Natürlich erinnere ich mich.«
»Er bestätigte mir, dass die beiden Handschriften identisch sind. Angesichts dessen erschien es mir ratsam, das restliche Beweismaterial gegen Dreyfus unter die Lupe zu nehmen. Dementsprechend habe ich mir auch das Geheimdossier angesehen, das den Richtern während des Prozesses vorgelegt wurde …«
»Einen Augenblick, Herr Oberstleutnant.« Boisdeffre hebt eine Hand. »Sie sagen, Sie haben sich das Dossier angeschaut. Soll das heißen, es existiert
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