Intrige (German Edition)
mutterseelenallein auf dem leeren Perron. Nichts stört die Stille außer Vogelgezwitscher und dem entfernten Hufeklappern eines Pferdefuhr werks mit einem quietschenden Rad. Ich gehe zum Stations vorsteher und frage ihn nach dem Weg zur Rue de Francon ville. Er sieht meine Uniform und meine Aktentasche. »Sie wollen bestimmt zum Herrn General«, sagt er.
Ich folge seinen Anweisungen und gehe auf einer Landstraße aus dem Dorf hinaus, einen bewaldeten Hügel hinauf und dann hinunter in die Einfahrt zu einem weitläufigen Bauernhaus aus dem 1 8. Jahrhundert. Gonse ar beitet hemdsärmelig mit einem zerbeulten Strohhut auf dem Kopf in seinem Garten. Ein alter Retriever läuft über den Rasen auf mich zu. Der General richtet sich auf und stützt sich auf seinen Rechen. Mit seinem rundlichen Bauch und den kur zen Beinen ähnelt er tatsächlich mehr einem Gärtner als einem General.
»Mein lieber Picquart«, sagt er. »Willkommen bei den Sch’tis.«
»Herr General.« Ich salutiere. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich Ihren Urlaub störe.«
»Schon in Ordnung, mein Lieber. Kommen Sie, wir trinken erst einmal einen Tee.« Er nimmt meinen Arm und führt mich ins Haus. Das Wohnzimmer ist vollgestopft mit exquisiten japanischen Kunstwerken – antike Siebdrucke, Masken, Schalen, Vasen. Gonse bemerkt mein überraschtes Gesicht. »Mein Bruder ist Sammler«, sagt er. »Die meiste Zeit des Jahres bewohnt er das Haus.«
Der Tee ist in einem mit Korbmöbeln ausstaffierten Gartenzimmer angerichtet: Petits Fours auf einem niedrigen Tischchen, ein Samowar auf einem Buffet. Gonse schenkt mir eine Tasse Lapsang Souchong ein. Der Korbsessel quietscht, als er sich setzt. Er zündet sich eine Zigarette an. »Also, was gibt es?«
Wie ein Handelsreisender mache ich meine Aktentasche auf und breite meine Waren zwischen dem Porzellangeschirr aus. Das ist ein heikler Augenblick für mich. Zum ersten Mal bringe ich gegenüber Gonse, dem Chef des Geheimdienstes, meine Nachforschungen über Esterházy zur Sprache. Ich zeige ihm das Petit Bleu und tue dabei so, um den Affront etwas abzumildern, als ob es erst Ende April in meinen Besitz gelangt wäre und nicht schon Anfang März. Dann wiederhole ich meinen Vortrag, den ich schon Boisdeffre gehalten habe. Ich überreiche ihm die Schriftstücke, die Gonse in der für ihn typischen systematischen Art eines nach dem anderen genau studiert. Als einmal Zigarettenasche auf eines der Überwachungsfoto fällt, bläst er sie seelenruhig weg und macht einen Witz darüber. »Verschleierung von Beweismitteln!« Selbst als ich ihm das Geheimdossier vorlege, zeigt er sich unbeeindruckt.
Ich habe den Verdacht, dass Boisdeffre ihn schon vorab über den Grund meines Besuches informiert hat.
»Ich hatte gehofft, irgendetwas in dem Dossier zu finden, was Dreyfus’ Schuld zweifelsfrei belegt«, sage ich zum Abschluss. »Aber ich befürchte, da ist nichts. Bei einem halbwegs anständigen Anwalt würde das keine zehn Minuten Kreuzverhör überstehen.«
Ich lege das letzte Schriftstück auf den Tisch und trinke einen Schluck Tee, der inzwischen eiskalt ist. Gonse zündet sich die nächste Zigarette an. »Dann haben wir also den falschen Mann?«, sagt er nach einer Pause.
Er spricht es so nüchtern aus, als würde er sagen: Dann sind wir also da vorn falsch abgebogen? oder: Dann hatte ich wohl den falschen Hut auf?
»Sieht so aus, leider.«
Gonse spielt nachdenklich mit einem Streichholz und bewegt es schnell und sehr geschickt zwischen den Fingern hin und her, bis er es plötzlich zerbricht. »Trotzdem: Wie erklä ren Sie den Inhalt des Bordereaus? Nichts von alldem ändert etwas an der ursprünglichen Annahme, oder? Es muss von einem Artillerieoffizier mit Erfahrung in allen vier Abteilun gen des Generalstabs geschrieben worden sein. Und das passt nicht auf Esterházy. Aber auf Dreyfus.«
»Im Gegenteil. Das ist genau der Punkt, warum unsere ursprüngliche Annahme falsch war. Wenn Sie sich den Bordereau noch einmal anschauen, dann sehen Sie, dass da immer von Mitteilungen die Rede ist, die übergeben wurden: eine Mitteilung über die hydraulische Bremse … eine Mitteilung über Bedeckungstruppen … eine Mitteilung über Artillerieformationen … eine Mitteilung über Madagaskar …« Zur Erklärung deute ich auf den Abzug des Bordereaus. »Mit anderen Worten: Es wurden keine Originalschriftstücke oder Kopien davon übergeben. Das einzige Schriftstück, das tatsächlich übergeben wurde –
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