Intruder 4
Während Mike mit einem leisen Anflug von Neid zusah, wie Frank die zentner-schwere Intruder ohne die geringste Mühe aufrichtete, stemmte Stefan draußen auf der Kreuzung sein eigenes Motorrad mit 80
einem zornigen Ruck in die Höhe. Er ließ den Motor an und fuhr die fünf Meter zu ihnen zurück, statt die Intruder zu schieben, was wesentlich schneller gegangen wäre.
Sie machten sich daran, die Schäden zu inspizieren. Franks Satteltasche war abgerissen, und das Schutzblech hatte eine fingertiefe Delle, aber Stefans Intruder hatte es schlimm erwischt. Aus dem Motor tropfte Öl, auch nachdem er ihn ausgeschaltet hatte. Die Sturzseite war hoffnungslos zer-schrammt, die entsprechende Fußraste ebenso verbogen wie das Bremspedal und der Spiegel auf der rechten Seite vollständig abgerissen.
»Mist«, sagte Frank. «Das sieht nicht gut aus.«
»Halb so wild.« Stefan bedachte ihn mit einem Blick, der jenseits allen Zweifels klar machte, wen er für diesen Schla-massel verantwortlich machte. »Ich weiß nicht genau, was mit dem Öl ist, aber den Rest krieg ich hin, wenn ich einen Hammer und eine Rolle Klebeband habe.«
»Die wachsen hier ja auc h an jeder Ecke auf den Bäumen«, sagte Mike. Die Bemerkung tat ihm sofort wieder Leid, denn nun bedachte Stefan ihn mit einem ausgesprochen zornigen Blick, auch wenn er sich jeden Kommentar verkniff.
Frank sah sich derweil suchend um und deutete schließlich nach vorne, direkt in Fahrtrichtung. »Da hinten scheinen ein paar Häuser zu stehen«, sagte er. Mike folgte der ausgestreckten Hand mit dem Blick, konnte aber nicht mehr als einen hellen Fleck ausmachen. Nun, er wusste, dass Frank die besseren Augen hatte. »Vielleicht finden wir dort Hilfe. Oder zumindest ein Telefon.«
Stefan sagte nichts. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg er in den Sattel und raste los.
Sie hatten abermals Glück. Anscheinend hatte das Schicksal beschlossen, etwas von dem, was es ihnen in den letzten Tagen angetan hatte, wieder gutzumachen - später sollte Mike begreifen, dass es ihnen eine letzte Chance geboten hatte, aber das 81
wussten sie natürlich in diesem Moment noch nicht.
Der verschwommene Fleck am Horizont, den Frank entdeckt hatte, entpuppte sich nicht als Ansammlung kleiner Häuser, wie man sie in dieser Gegend dann und wann am Straßenrand fand, sondern als moderne Hotelanlage, die mutterseelenallein im Nichts stand. Auf dem weitläufigen Parkplatz waren nur wenige Autos abgestellt.
Weder Mike noch die anderen waren momentan in der Stim-mung, darüber nachzudenken, wie jemand auf die Idee kam, ein Millionen Dollar teures Motel in der Mitte von Nirgendwo zu erbauen. Ihnen kam es wie ein Geschenk des Himmels vor.
Sie hätten es auch ohne zu zögern akzeptiert, wenn man ihnen erzählt hätte, dass das BEST WESTERN einzig für sie errichtet worden wäre und nur für eben diese eine Gelegenheit.
Sie parkten die Maschinen unmittelbar vor dem Haupteingang und ignorierten die strafenden Blicke des Conciege, als sie nicht nach Zimmern fragten, sondern nur nach dem Weg zum Restaurant. Mit der in diesem Land üblichen Höflichkeit -
wenn auch in der Eiskalt-Variante - wurden sie dort hingeführt.
Das Restaurant war vollkommen leer. Eine junge Frau im eleganten Hellgrau und Dunkelblau des BEST-WESTERN-Personals führte sie zu ihren Plätzen. Sosehr sie sich auch bemühte, gelang es ihr doch nicht ganz, den leicht verächtli-chen Blick zu unterdrücken, mit dem sie ihre neuen Gäste musterte. Noch eine Illusion, die auf dieser Tour auf der Strecke geblieben war: Sie waren Motorradfahrer, Biker in schwarzem Leder, mit Sonnenbrillen und Helmen, und als solche rangierten sie hier im Lande der Route 66 und Easy Rider ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter.
Routinierte Hotelangestellte und Kellner erkannten zweifellos an ihren Nummernschildern, dass sie gemietete Maschinen fuhren, und spätestens wenn einer von ihnen den Mund aufmachte, outeten sie sich als wohlhabende Touristen aus Europa, die sich für ein oder zwei Wochen ein anderes Leben 82
erkauften. Aber das änderte nichts an der Grundeinstellung.
Die Leute hier mochten ihre Kreditkarten. Nicht sie selbst.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Kaum. Das Land der unbegrenzten Spießigkeit traf schon eher zu.
Sie nahmen Platz. Während Mike die Speisekarte aufklappte und sich mit seinen bescheidenen Englischkenntnissen hin-durchzukämpfen begann - das Einzige, was er ohne Probleme verstand, waren die
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