Intruder 6
uns allen am besten. Und was deine Frage angeht: Natürlich rede ich mit ihm.«
»Danke.«
»Ich hätte dir diesen Vorschlag sowieso gemacht«, sagte Frank. »Nicht, dass ich dir meine Hilfe aufdrängen will. Aber ich glaube, im Moment ist es klüger, wenn du dich von Stefan fern hältst. Falls er heute noch einmal auftaucht, heißt das.«
»Wir könnten ihn suchen«, schlug Mike vor.
Frank lachte. »Ach, und wo? Es ist völlig sinnlos, in dieser Stadt nach einem einzelnen Mann zu suchen. Lass das Strong und seine Freunde machen. Die können so etwas besser.« Er sah auf die Uhr. »Wir haben noch einen Menge Zeit, bis die Show anfängt. Was hältst du davon, wenn du dich ein bisschen ausruhst?«
»Und du?«, fragte Mike misstrauisch.
»Ich muss noch einmal mit diesem Halsabschneider von Rechtsanwalt reden«, antwortete Frank. »Wahrscheinlich steht er jetzt schon drüben im Bally’s und kaut auf den Fingernä-
geln, weil wir nicht mehr da sind. Ich sage es dir gleich: Der Spaß wird uns noch eine hübsche Stange Geld kosten.«
»Das ist mir egal«, sagte Mike, und es war durchaus ernst gemeint. »Hauptsache, wir kommen hier raus. Irgendwie.«
»Also gut«, sagte Frank. »Dann hau dich aufs Ohr. Wenn Stefan auftaucht oder irgendetwas anderes passiert, wecke ic h dich. Ansonsten treffen wir uns spätestens um halb zehn unten am Pool. Ich nehme an, dass Strong einen Tisch für uns reserviert hat.« Er wartete einen Moment lang vergebens auf eine Antwort, dann deutete er ein Achselzucken an und verließ mit schnellen Schritten den Raum.
Mike blieb allein zurück. Er war verwirrt, zutiefst veruns ichert, und er hatte fast panische Angst, ohne sagen zu können, wovor. Er durchquerte das Zimmer und betrat das großräumige Bad. Ohne darauf zu achten, dass er den Verband an seiner Hand nass machte, schöpfte er sich fünf, sechs Mal hintereinander eiskaltes Wasser ins Gesicht und ließ auch noch eine Hand voll davon in seinen Nacken laufen. Die Kälte verscheuchte zwar die Müdigkeit nicht, klärte aber seine Gedanken. Zumindest glaubte er das ...
Als er sich aufrichtete, blickte ihm aus dem Spiegel der Wendigo entgegen.
Mike erstarrte. Er erschrak nicht, er schrie nicht auf - er starrte einfach nur das faltige graue Gesicht mit den äonenalten Augen an, gefangen in einem Zustand, der jenseits aller Emotionen und jenseits aller Worte lag. Er konnte sich selbst im Spiegel sehen, das cremefarben geflieste Bad hinter sich.
Und zugleich war da auch der uralte Indianerdämon, ein Ding, das existierte und doch nie existiert hatte und das er vielleicht nie wieder loswerden würde. Der Wendigo sagte nichts. Er rührte keine Miene, blinzelte nicht, bewegte sich nicht, aber die unstillbare Bosheit und der grenzenlose Hass in seinen Augen loderten zu neuer Glut auf, erfüllt von einer Vorfreude, die Mike mit maßlosem Entsetzen erfüllte.
»Nein«, sagte er.
Der Wendigo reagierte nicht. Er starrte ihn weiter an. Das Lodern in seinen Augen blieb.
»Nein!«, sagte Mike noch einmal. Er lauschte vergebens auf einen Unterton von Hysterie oder Angst in seiner Stimme. Da war nichts von alledem, was ihm bisher immer so zu schaffen gemacht hatte, wenn er mit jemandem streiten musste. Nichts von dem kindlichen Trotz, nichts von seinem Hang zur Überre-aktion, den er selbst so oft verflucht hatte, nichts von dem Zynismus, für den er berüchtigt war, obwohl er sich oft genug selbst dafür gehasst hatte. Plötzlich war alles ganz klar. Er wusste, dass er den Wendigo niemals besiegen konnte. Er konnte nicht vor ihm davonlaufen, er konnte ihn nicht schlagen. Dieses Ding, das aus seiner eigenen Seele kam, war geweckt und würde sein treuer, uneingeladener Gast bleiben bis ans Ende seines Lebens. Es war völlig sinnlos, gegen ihn zu kämpfen. Aber er konnte etwas anderes tun.
»Nein«, sagte er noch einmal. »Ich habe keine Angst mehr vor dir.«
Der Wendigo reagierte noch immer nicht. Er starrte ihn weiter aus seinen unheimlichen, flammenden Augen an. Doch etwas anderes geschah. Nichts Sichtbares. Nichts, das Mike benennen konnte, aber er spürte es deutlich. Irgendetwas ...
veränderte sich.
»Du kannst mich nicht mehr erschrecken«, beharrte er. »Ich weiß jetzt, wer du bist.«
Das Bild flackerte. Mikes eigenes Spiegelbild und das des Bades blieben klar und fest. Über das Antlitz des Wendigo jedoch schienen winzige Wellen zu laufen wie über das Spiegelbild auf der Oberfläche eines Sees, in den man einen Stein geworfen
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