Intrusion
Stirn. In den vergangenen drei Nächten waren die Träume stets gleich gewesen. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Nicht ein einziges Mal. Das bedeutete etwas Besonderes, aber er wusste nicht, was.
Natürlich war es nicht nötig, dass er die Träume an ihr Ziel geleitete. Entgegen seinen Behauptungen hatte der Prozess nichts mit ihm zu tun. Diese nächtlichen Spaziergänge boten ihm jedoch die Möglichkeit, das Schloss zu verlassen und wenigstens zeitweise den Launen und Klagen des Herzogs zu entfliehen.
Es war ein kurzer Ausflug. Das Dorf Days Past befand sich zu seiner Rechten, still, ohne ihn wahrzunehmen, im Schlaf darauf wartend, dass er die Nachtuhr neu aufzog. All die braven Uhrwerkmenschen lagen gehorsam in ihren Betten. Nur ein paar einsame Seelen würden wachen und merken, wie langsam die Nacht verging.
Der Traum war bereits in Schloss Eisennetz eingetroffen, das sich jetzt am leicht abfallenden Horizont erhob. Elektrische Entladungen zuckten wie grüne Blitze von seiner hohen Krone und jagten die Mauern entlang in die Tiefe. Ihr Licht erhellte das gigantische Eisengitter des Schlosses, das sich wie ein Spinnennetz über den großen Burghof und die tiefer gelegenen Vorhöfe spannte. An manchen Stellen war es grob gewebt, an anderen dünn wie ein Seidengespinst. Seine äußeren Metallfäden erfassten sämtliche Brüstungen und Türme des Schlosses. Wie stets um diese Nachtzeit wirkte das Eisengebilde wie eine Skulptur aus kostbarem schwarzem Glas, in der sich eindrucksvoll die Sterne spiegelten. Der Anblick flößte solche Ehrfurcht ein, dass für kurze Zeit sogar ein Kult zur Verehrung des Bauwerks entstanden war.
In der Morgendämmerung würde das Schloss all seinen Glanz verlieren und sich in eine Ansammlung schwarzer Metallteile verwandeln. Und am Tage glaubte kein Mensch, dass die Existenz der Welt vom Schloss abhing wie ein Körper von dem unscheinbaren roten Muskel in seiner Brust.
Früher war es nicht nötig gewesen, das Leben der Welt künstlich zu verlängern. Jetzt aber war der Weltenmacher verschwunden, dem Wahnsinn verfallen, dem Tod nahe oder bereits gestorben (niemand wusste es genau). Er hatte seine Schöpfung im Lauf der Jahrhunderte immer mehr verkümmern lassen, bis buchstäblich über Nacht das Schloss erschienen war. Und mit ihm die Träume. Das Schloss zog die Träume an, Nacht für Nacht.
Torak achtete kaum auf das grelle Spektakel in Grün, das lange Schatten hinter ihm auf die Straße warf. Er beschwor das Bild von Aden herauf, der, von der Strömung mitgerissen, hinter einer Biegung des Flusses verschwand. Er spuckte den letzten Fingernagel aus und murmelte: »Wasser. Tödlich! Dabei hatte ich ihn gewarnt. Aber sie hören ja nie, diese jungen Leute. Nie.«
»Du hast dein Bestes getan«, meinte die Schlange gähnend.
»Kam mir seltsam bekannt vor«, fuhr Torak fort und zerrte nervös an seinem Schnurrbart. »Und … der Enkel des Weltenmachers? Nein! Absurd. Vergessen wir das! Kein Wort darüber. Hörst du? Du wirst kein Wort darüber verlieren. Ich will nichts von diesem Thema hören. Absolut nichts.«
Die Schlange schwieg.
Torak blieb mitten auf der Straße stehen und setzte mehrmals zum Sprechen an. Ein Schauder durchlief ihn. »Also gut«, kreischte er und sah die Schlange wütend an. »Also gut, ich gestehe es. Dieser junge Mann. Er beunruhigt mich. So. Bist du jetzt zufrieden? Zufrieden? Na? Heraus mit der Sprache! Halte nichts zurück! Du liebst es doch, die Dinge zu bewerten. Tu dir keinen Zwang an!«
Die Schlange verdrehte den Hals und schaute zu ihm auf. »Beunruhigt?«, fragte sie träge.
»Beunruhigt. Besorgt. Angsterfüllt. Ja? Hm? Ja?«
»Ich verstehe.«
»Ich nehme an, du bist jetzt stolz auf dich? Weil du ihn zuerst erkannt hast? Aus den Träumen, sagtest du? Also, wie kommst du auf diesen Gedanken, verdammt noch mal? Was macht dich so sicher?«
»Das Muttermal an seinem Hals. Ein kleines, längliches Muttermal. Es fiel mir auf, als ich an ihm vorbeiglitt. Wenn der junge Mann abends in den Träumen erschien …«
»So sicher! So sicher bist du also!« Torak packte die Schlange mit beiden Händen, so fest er konnte. Sie wurde schlaff wie Gummi, redete aber weiter: »… wenn er abends in den Träumen erschien, war dieses Muttermal gut zu erkennen. Er tauchte als Kind auf, als Jugendlicher, als junger Mann, einmal sogar als Baby in den Armen des Weltenmachers. Damals sagte er, ich zitiere: ›Dada!‹, und griff nach der Brille des Alten. Das
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