Intrusion
»Das ist doch die Höhe! Ich habe dir soeben ein ungemein kostbares Geschenk gemacht. Undankbare Schlampe! Du solltest vor mir niederknien! Du und deine verheulte Brut. KNIET NIEDER!«
Etwas später sahen Passanten, wie Slythe den blutverschmierten, humpelnden Julius mit sanfter Gewalt ins Freie und zum Wagen führte. »Keine Dankbarkeit!«, kreischte der Herzog. »Nicht die Spur von Dankbarkeit. Das gehört sich nicht, Slythe, das gehört sich einfach nicht. Bring mich zurück! Geben wir ihnen, was sie verdienen! Ich bin selten so brüskiert worden. Ich hätte gute Lust, einen Wutanfall zu kriegen, Slythe, aber ich habe solche Kopfschmerzen. Ein leises Schimpfen auf der Fahrt zurück zum Schloss muss genügen. O Ray, wach auf! Du versäumst garantiert eine beißende Bemerkung.«
Der Wagen rollte los und entfernte sich von dem Gehöft. Rotes Licht pulsierte durch seine Adern, als er langsam zum Schloss Eisennetz zurückfuhr. Der Herzog lag stöhnend auf den weichen Ledersitzen und hielt sich den Kopf.
KAPITEL 10
Vor dem Tod
Dies sollte ein seltsamer Tag für den Priester werden, den Aden und Charm am Fenster der Weltenmacher-Kirche gesehen hatten. Kevas Rem war der Name, den er bei seiner Geburt erhalten und den er mit Freuden für den begehrten Titel abgelegt hatte. Der Namenlose. Alle Priester trugen diese Bezeichnung, eine vermeintliche Geste der Demut, die – in ihren Augen zumindest – den Status höchster Vollkommenheit zum Ausdruck brachte. Einen Priester nach der Weihe bei seinem wahren Namen zu nennen, galt als schlimme Kränkung.
Was den Tag zunächst seltsam machte, war die Tatsache, dass nur drei Priester das Vorrücken des Vergessens überlebt hatten. Kevas war einer von ihnen, doch das wusste er ebenso wenig wie die meisten anderen. Er hatte von diesem »Wall« gehört, wie die Kirche die Barriere nannte, sah jedoch wie die anderen Priester keinen Grund zur Beunruhigung. Erstens war der Wall Tausende von Meilen entfernt und rückte so langsam wie ein Gletscher vor. Und zweitens lief das Leben auf der anderen Seite vermutlich völlig normal weiter, da bisher kein Mensch jene Grenze überschritten und Dinge berichtet hatte, die Anlass zur Sorge gegeben hätten; man wusste es nur nicht mit letzter Sicherheit, weil niemand von dort zurückkehrte.
Das Innere der Kirche war längst nicht so grotesk wie ihr Äußeres. Mehr als die Hälfte des Raumes nahm ein riesiger Saal mit einem Bühnenpodium und einer Kanzel ein, für Predigten vor leeren Bänken. (Nur am Tag des Erntedanks und des Jahreswechsels fanden sich ein paar Leute aus der Umgebung ein, die beim Anblick der Plakate auf dem Dorfplatz ein schlechtes Gewissen bekommen hatten. Vielleicht ließen sie sich auch von dem kostenlos verteilten Brot und Wein verlocken, denn sie besuchten die Gottesdienste so selten, dass ihnen das Ritual, Brot und Wein nach dem Kosten in bereitgestellte Schalen zu spucken, nicht mehr geläufig war und von einem grimmigen Kevas in Erinnerung gebracht werden musste. Der Sinn der Zeremonie war, ihnen zu verdeutlichen, dass sie nichts besaßen , dass selbst ihr Leib und ihre Sinne nur für kurze Zeit geliehen waren, um dem Weltenschöpfer zu dienen. Spuck!)
Die Wände des Predigtsaals waren mit den gleichen Szenen geschmückt wie die Buntglasfenster: eine Riesenhand, die vom Himmel durch die Wolkendecke auf die Welt herabstieß, entweder mit der Handfläche nach oben oder mit dem Zeigefinger nach unten gerichtet. Nicht dargestellt waren der Tod und die Vernichtung, die den Neugestaltungen des Weltenmachers in der Regel folgten, wenn beispielsweise ein ganzes Dorf eingestampft wurde wie eine Sandburg. Aber das war seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen.
Hinter dem Predigtsaal befanden sich Gemächer, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Eines hieß »Die Bibliothek der Großen Geister«, obwohl der Raum weder Bücher noch Mobiliar enthielt, nichts außer zwei Dutzend kleinen Steinsäulen, die jeweils eine Glaskugel trugen. Darin zuckten elektrische Impulse in leuchtenden Farben, die rosafarbene, tiefblaue, rote, weiße und goldene Lichtreflexe an die Wände warfen. Die Lichter waren die Seelen einiger der berühmtesten Geistesgrößen von Nightfall: frühere Kleriker, Krieger, Magier, Gelehrte und Künstler, alle gewaltsam vor ihrem Tod ergriffen und hier eingesperrt, um für alle Zeiten der Kirche und ihren Priestern zu dienen. Man konnte in Verbindung mit diesen gefangenen Seelen treten und Gedanken
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