Intrusion
vorgetäuschtes Omen.
Er betrat die Bühne stark humpelnd, da die Arthrose im Knie ihm wieder einmal heftige Schmerzen bereitete, und räusperte sich wie ein Motor, der nur mühsam ansprang. »Was mich empört«, begann er, »was mich mehr als empört, ist die bisweilen von meinen heiligen Mitbrüdern geäußerte Vermutung, unser Schöpfer sei – ich mag es kaum wiederholen – dem Wahnsinn verfallen oder habe uns durch seine Untätigkeit und sein Schweigen im Stich gelassen. Nacht für Nacht sehen wir, dass dem nicht so ist, wenn er uns die Wohltat seiner Träume erweist, die er zwar nicht umsonst , aber doch sehr großzügig an uns verteilt. Wenn er schweigt, so ist das würdig und recht. Wenn er untätig bleibt, so ist das weise. Könnte es nicht sein, dass er aufgehört hat, die Welt zu gestalten, weil sie vollendet ist, perfekt, genau so, wie er sie geplant hat? An dieser Stelle denkt ihr vielleicht an seine ›Fehler‹ und vergesst dabei ganz, dass wir die Fehler dieser Welt sind.
Weshalb also legt ihr die Hände in den Schoß?«, donnerte er den leeren Kirchenbänken entgegen. »Was tut ihr schon? Ihr geht eurer täglichen Arbeit nach, bereitet eure Mahlzeiten und zieht die nächste Generation groß. Notwendig, ja, aber doch nicht alles im Leben! Übernehmt ihr eine Rolle ? Gestaltet ihr die Geschichte? Nein! Euer Dasein läuft mechanisch ab wie ein Uhrwerk. Immer das gleiche Schema, eine Generation wie die andere, jeder von euch zum vorherbestimmten Datum wiedergeboren, die Erinnerung an eure frühere Rolle gelöscht, die Zeiger auf null gestellt, als hättet ihr nie zuvor existiert. Gefangen in einem klickenden, schnurrenden Getriebe ineinandergreifender Rädchen! In einem Uhrwerk!
Ich sage euch, tötet eure Weiber! Rettet die Weiber eurer Nachbarn davor, getötet zu werden! Stehlt! Mordet! Rettet! Schützt! Sterbt! Lebt! Seid mehr als nur Requisiten auf einer Bühne! Seid Schauspieler , schreibt das Drehbuch ! Seid böse! Hasst die Armen und Siechen! Oder helft ihnen, wie ich es tue! Aber handelt ! Handelt! Tretet aus den Kulissen hervor! Denn er hat euch schon einmal beobachtet, und er wird es wieder tun. Vielleicht beobachtet er euch jetzt, in diesem Moment. Führt ihm ein Drama vor! Das Gute muss das Böse bekämpfen. Seid das eine oder das andere! Unterhaltet ihn! Wenn er schläft, weckt ihn! Oder gleichen eure Schritte den Zeigern einer Uhr, die sich im Kreis bewegen und bis zur letzten leeren Sekunde ticken? Seid ihr ohne Leben ? Seid ihr gemalte Kulissen, unbewegt, tot?«
Die Stimme des alten Mannes hämmerte stundenlang auf das leere Kirchengestühl ein. Es klang, als schlüge ein Sträfling unentwegt mit einer leeren Blechtasse gegen die Gitterstäbe seiner Zelle. Dazu stapfte er auf dem Podium hin und her, in einem holpernden Rhythmus, der von seinen ständigen Knieschmerzen kündete.
Kurz bevor Julius in Begleitung von Slythe, Raydon und Aden an der Kirche vorfuhr, ereigneten sich mehrere Dinge. Es begann mit einem Besuch von Torak, nur wenige Minuten, nachdem Kevas seine Predigt beendet hatte – eine zeitliche Aufeinanderfolge, die dem Priester keineswegs entging. Das zornige Fauchen, das ihm beim Anblick des herzoglichen Ratgebers entschlüpfte, war reiner Reflex.
Torak sah aus wie jemand, der eine schlaflose Woche verbracht hatte, als er sich hastig an den Kirchenbänken vorbeizwängte. Es war in der Tat ein aufreibender Vormittag für den Ratgeber des Herzogs gewesen; ein Großteil des Heeres hatte sich so weit entfernt von der Grenze befunden, dass es nicht mehr rechtzeitig zurückkehren konnte, als der Wall unvermittelt vorrückte. Das bedeutete, dass die Kirche erstmals über mehr Feuerkraft verfügte als das Schloss. Vermutlich reichten bereits die Dragoner aus der Umgebung von Days Past aus, um das Schloss in einem Sturmangriff zu erobern. Mit Verstärkungen aus den übrigen Dörfern hatte die unbeholfene einarmige Militäreinheit, die dem Herzog noch geblieben war, nicht die geringste Chance.
Außerdem hatte Torak keine Ahnung, was er von Aden halten sollte. Deshalb sein Besuch bei Kevas. Er hoffte, dass der Priester etwas Licht in die Angelegenheit bringen konnte. Das Auftauchen des jungen Mannes und seine Behauptungen hingen sicherlich mit den anderen Ereignissen der Nacht zusammen. Auch das Geheimnis um das Vorrücken des Walls und die Frage, wie es sich aufhalten oder rückgängig machen ließ, zumindest so weit, dass wieder ein bequemer Abstand zu dieser Barriere
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