Intrusion
mit ihnen austauschen, indem man die Hände auf die Glaskugeln legte und so ihren Schlaf unterbrach.
Bedauerlicherweise ließ sich aus dieser Kommunikation wenig Nutzen ziehen, da die unfreiwillig Festgehaltenen in der Regel mit ihrem Schicksal haderten und auf Fragen eher mit Flüchen als mit Ratschlägen antworteten. (Eine dieser Seelen hatte Kevas eines Tages dermaßen unfassbare Ketzereien entgegengeschleudert, dass er sie zur täglichen Folterung in Corberts Körper verbannt hatte.)
Jenseits der Bibliothek der Großen Geister, jenseits des modrigen Kellers, führte eine in Stein gehauene Treppe in einen langen, tief gelegenen Tunnel, der sich weiter erstreckte, als das Auge reichte. Besucher, die diese Steintreppe hinabstiegen, spürten, wie ihnen die Haare zu Berge standen und die Haut zu kribbeln begann, und sie hörten ein schwaches Summen, das immer mächtiger wurde, je tiefer sie vordrangen. Schließlich stießen sie auf eine unterirdische Kaverne mit einer in den Fels eingeschnittenen Schlucht von der Größe eines Flusses. Durch diese Schlucht wälzte sich eine wirbelnde Masse weißen Lichts, in der hier und da andere Farben aufblitzten. Dies war die vom Schloss Eisennetz eingefangene Energie, die Vorstellungskraft der vom Weltenmacher verschlungenen Träume, die der Realität zugeführt wurde und sie speiste. Es war einer der seltenen Orte, an denen dieser geheime Strom sichtbar war, obwohl er tagtäglich unter den Dörfern dahinfloss.
Die Unterkunft des Priesters im rückwärtigen Teil des Anwesens bestand aus einem chaotischen Raum mit einem Bett, das nie gemacht wurde; Unmengen von Büchern über Botanik, Naturwissenschaften, Medizin und Kräuterkunde, die sich auf dem Fußboden stapelten; Pergamenthandschriften, die Kevas selbst verfasst hatte; ein paar Holz-Puzzles (sein einziges, meist von einem schlechten Gewissen begleitetes Vergnügen); und vier Schachbrettern mit angefangenen Partien, die er gegen sich selbst spielte. Weiter hinten im Gang war das »Grüne Zimmer«, bis zur Decke voll mit exotischen Pflanzen in Töpfen und Kübeln, teilweise ausgestorbenen Raritäten, die es nur noch in diesem Raum gab. Viele dieser Pflanzen lieferten Arzneien, Drogen und Gifte.
Andere Räumlichkeiten der Kirche hatten einst grausigeren Zwecken gedient: das »Blutzimmer«, in dem man den Göttern in grauer Vorzeit Menschenopfer dargebracht hatte, und der Raum der Echos, der so angelegt war, dass er die Schreie von gefolterten Ketzern einfing und als Chor wiedergab, sobald das nächste Opfer über seine Schwelle trat. (In manchen Nächten war ihr schwacher Widerhall immer noch zu hören.) Es gab noch mehr Gemächer dieser Art, die letzten davon ersonnen von Sivanas, dem »Propheten des Blutvergießens«. Spätere Priester waren übereingekommen, diese Räume zu erhalten, als Warnung für ihre Brüder, bei der Wahl der Kirchenoberen vorsichtig zu sein. Und, so argumentierten sie, um sich die Renovierungskosten zu ersparen, falls je wieder ein Despot an die Spitze der Kirche gelangen sollte.
An diesem seltsamen Tag tauchte Kevas Rem aus seiner Schlafkammer auf, in der Hand ein Predigtmanuskript, das er in der Nacht zuvor voller Eifer überarbeitet hatte, ungeachtet der Tatsache, dass sich wieder keine Gläubigen einfinden würden. Er spürte seine toten Vorgänger beifällig nicken, als er zur Bühne stampfte, barfüßig, unrasiert und mit wildem Blick, die pockennarbige Haut rissig wie Leder, ähnlich wie in längst vergangenen Zeiten die verlotterten Wirrköpfe, die sich an irgendwelchen Straßenecken als Prediger betätigten. Ein kleiner weißer Schädel hing an einer Kette um seinen Hals. Seine graue Soutane, die er nie ablegte, stank wie der Leichnam eines Dämons.
Als er an der ersten Bankreihe vorbeikam, fuhr er vor Schreck fast aus der Haut, als er einen einsamen Besucher erspähte. Corbert. Kevas brauchte ein paar Sekunden, um sich von dieser Überraschung zu erholen. »Ich nehme an, du hast gute Gründe, deine Arbeit zu vernachlässigen«, sagte der Priester.
»Allerdings.« Corberts Augen zuckten unentwegt. Er berichtete, was Mister Gorr ihm über das sonderbare Gemälde erzählt hatte. Der Namenlose hörte zu, ohne Fragen zu stellen, nickte nur und sagte: »Du kannst gehen.«
Er seufzte, als Corbert den Saal verließ. Der Mann gebrauchte fast nie eine Ausrede, um einen Tag freizubekommen. Kevas fand die Ausnahme verzeihlich, obwohl ihm eine vorgetäuschte Krankheit lieber gewesen wäre als ein
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