Intrusion
nach einem Versteck, wo sie Atem schöpfen konnte. Es hatte nicht lange gedauert, das Ding einzuholen. Was sie nicht sagen konnte, war, warum sie es verfolgte; warum sie sich diesem Albtraum aussetzte, der ihren Herzschlag so beschleunigte, dass ihr die Brust schmerzte.
Das grässliche mechanische Summen kam von irgendwo weiter hinten aus dem Wald, während das Ungetüm aufs Geratewohl hierhin und dorthin trottete. Es hatte Gefallen an dem hellen Schimmer gefunden, der sie umgab wie eine Aura. Mit gleißenden Lichtstößen hatte sie versucht, es von Days Past fernzuhalten und zum Schloss zu dirigieren, um den dortigen Bewohnern zu zeigen, was ihre Mutter angerichtet hatte, vor allem aber, um es von jenem Wald fortzulocken, der ihr so lange Zuflucht und Heimat geboten hatte.
Es gab keine Heimat mehr. Sie konnte nicht in einer Welt bleiben, in der das Grauen frei umherstreifte. Hungrig, ohne Verstand, durch nichts aufzuhalten, unbezwingbar.
Dicht vor Charm tauchte der Fluss auf. Etwas trieb an ihr vorbei – ein silbernes Gewand, das in der Strömung wirbelte und kreiselte. Noch während sie ihm nachstarrte, versank es in den Fluten. Weiter flussaufwärts stand eine einsame Gestalt reglos am Ufer.
Die Silhouette der Fremden zitterte im glasigen Wellengekräusel. Figuren wanden sich in ihrem Spiegelbild, erhoben sich wie Rauchfahnen, wie flüchtige Gespenster, die der Wind mitriss und auflöste. Lady Mira. Charm war ihr noch nie begegnet, aber sie hatte davon gehört, dass aus Spiegeln, in denen sich Mira betrachtete, kleine Erscheinungen aufstiegen. Mira war nackt, und ihr schlanker, hochgewachsener Körper hob sich bleich wie Mondlicht gegen ihr rabenschwarzes Haar ab.
Das Geschöpf des Grauens stolperte ein Stück hinter Charm durch das Unterholz und stapfte dann tiefer in die Wälder, fort vom Fluss. »Komm«, sagte Mira, zu Charm gewandt. »Fürchte dich nicht. Es gibt keinen Zwist zwischen dir und mir. Du bist vielleicht die Letzte, die mich lebend sieht.«
Charm zögerte und hätte fast die Flucht ergriffen, aber der traurige Unterton in der eiskalten Stimme der Lady nahm sie gefangen. Sie trat näher. Das Grauen stieß erneut einen seiner gespenstischen mechanischen Schreie aus. Ein Schauer überlief Charm. Mira starrte in die Richtung, aus der das Heulen kam. »Ich werde direkt in seine Arme wandern«, sagte sie. »Wenn es mich tötet, dann sterben Slythe und Julius mit mir. Du allein wirst wissen, was ihnen zugestoßen ist.«
»Weshalb bist du so sicher, dass sie sterben werden?«, fragte sie und setzte sich auf einen umgestürzten Stamm, erleichtert, dass sie endlich rasten konnte.
Mira stand still wie aus Stein gemeißelt. »In meiner Brust befindet sich ein Edelstein, in der von Julius ebenfalls. Wenn mein Herz zu schlagen aufhört, zerspringt der Stein in seinem Herzen. Unser Vater ordnete das an. Er hätte besser für sich selbst Sorge tragen sollen, denn ich vergiftete sein Essen, als ich gerade mal zwölf war. Später holte ich den Meuchelmörder in meine Dienste und ließ auch ihm einen Edelstein ins Herz einpflanzen, damit er auf jeden Fall alles täte, um uns am Leben zu erhalten.«
Charm stieß ein spöttisches Lachen aus. »Nichts kann Slythe töten. Nicht einmal dein Edelstein.«
Mira zuckte ein wenig mit den Schultern. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Er kann zumindest seiner äußeren Hülle beraubt werden. Das, was Slythe in Wahrheit ist, wird weiterleben, darin gebe ich dir recht, um irgendwann in einen neuen Körper zu schlüpfen – falls es dann noch eine Welt gibt, die ihn aufnimmt. Das Gleiche gilt für dich. Wer weiß? Vielleicht stirbt dieser Planet, um Platz für eine neue Welt zu machen.«
Charm dämpfte ihre Aura so gut wie möglich, obwohl das Licht nach außen drängte und einen gewaltigen Druck in ihr aufbaute. Mira, die sich bewusst war, wie sehr Frauen Charm wegen ihrer Macht über die Männer hassten, hatte sich von ihr abgewandt. »Dieses Albtraum-Monster wird dich nicht töten«, sagte Charm. »Zumindest nicht so, wie du dir das vorstellst. Dein Herz wird nicht stillstehen. Wenn dich das Grauen berührt. wird es so sein, als hättest du nie ein Herz besessen. Deshalb bezweifle ich, dass die Sache mit dem Edelstein klappen wird.«
»In diesem Fall hätte mein Bruder Glück«, meinte Mira.
»Warum tust du das? Warum wartest du nicht einfach, wenn ohnehin alles zu Ende geht?«
Mira schaute sie an – und was als Lächeln begonnen hatte, endete mit einer starren
Weitere Kostenlose Bücher