Invasion - Die Verräter - Ringo, J: Invasion - Die Verräter
Er konnte hier in der Öffentlichkeit nicht um seine Mutter weinen. Wenn er das getan hätte und sie dabei gewesen wäre, um es zu sehen, wäre sie die Erste gewesen, die ihn mit einem nicht gerade sanften Klaps ermahnt hätte, dass »Männer nicht weinen«. So war das gewesen, seit er ein kleiner Junge gewesen war, ein sehr kleiner Junge.
Einmal hatte ihn seine Mutter dabei ertappt, wie er wegen irgendeiner Kleine-Jungen-Tragödie geweint hatte; selbst wenn es um sein Leben gegangen wäre – er konnte sich heute nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Sie hatte ihm damals eine Ohrfeige gegeben und dann gesagt: »Junge, weine nicht. Zum Weinen sind Mädchen da.«
Von der Ohrfeige erschreckt, hatte er unter Tränen gefragt: »Wozu sind dann Jungs da, Mama?«
Seine Mutter hatte todernst geantwortet: »Jungs sind zum Kämpfen da.«
Damals hatte er gelernt, nur noch innerlich zu weinen.
Und so ging er jetzt mit trockenen Augen auf und ab, mit leicht gesenktem Kopf und hinter dem Rücken verschränkten
Händen. Leute in grüner und weißer Krankenhaustracht gingen an ihm vorbei. Einige von ihnen hielt er für Gringos. Hector schenkte ihnen nur wenig Beachtung, sondern fuhr fort, auf und ab zu gehen. Normalerweise hätte er trotz seines Alters den hübschen jungen Krankenschwestern zumindest nachgesehen . Er wusste, dass er recht jung aussah, vielleicht dreißig Jahre unter seinem wahren Alter von siebenundachtzig Jahren, schließlich hatte er noch volles, dunkles Haar und klar blickende braune Augen, und deshalb erwiderten die Mädchen seine Blicke noch häufig.
Aber eines der Mädchen fiel ihm trotzdem auf. Ein hübsches kleines Ding, gerade einen Meter fünfzig groß, mit einer perfekten Figur, wenn auch in Miniaturausgabe, und mit strahlend blauen Augen und flammend rotem Haar. Das Haar zog Hectors Aufmerksamkeit auf sich; das und die selbstbewusste Art, wie sie ihn ansah. Er hatte keine Ahnung, was er an sich hatte, das diese hübsche Rothaarige dazu veranlasste, auf ihn zuzugehen und vor ihm stehen zu bleiben.
Da stand sie, sah ihm gerade in die Augen, und dabei zuckte ein rätselhaftes Lächeln um ihre Mundwinkel. Das dauerte beinahe eine Minute lang.
Etwas … etwas … was hatte dieses Mädchen an sich? Dachte Hector. Dann weiteten sich seine Augen erschreckt.
»Mama?«
Fort William D. Davis, Panama
Sergeant Major McIntosh verzog die Lippen, sodass seine schneeweißen Zähne deutlich vor seiner schwarzen Haut hervortraten. Das reinste Chaos war das, eine Beleidigung für das Auge eines Soldaten. Dass der Golfplatz eingewachsen und halb vom Dschungel verschluckt war, störte ihn nicht. Golf war nach Ansicht des Sergeant Major ohnehin etwas für Weicheier. Aber die Kasernen? Sie waren das Heiligtum
eines Soldaten, und dieses Heiligtum hier war entweiht worden! Die Fensterscheiben waren teils zerbrochen, teils fehlten sie völlig, Leitungen waren einfach herausgerissen worden. Der Exerzierplatz sah natürlich genauso aus wie der Golfplatz, und ein Exerzierplatz war wichtig, viel wichtiger als eine Albernheit wie Golf. Und überall lag Müll und Unrat herum. Die einzigen Gebäude, die auch nur in einigermaßen vernünftigem Zustand waren, waren die Wohngebäude, die man an Regierungsfunktionäre, ihre Familien und ihre Freunde verkauft hatte. Und selbst die mussten dringend neu getüncht werden.
Der Sergeant Major blieb stehen und betrachtete die Überreste eines Wandgemäldes, das einen amerikanischen Soldaten in einem altmodischen Stahlhelm aus der Zeit des Vietnamkriegs zeigte; der Soldat trug ein Maschinengewehr auf der Schulter und überquerte symbolisch den Isthmus von Panama. Das Gemälde war an vielen Stellen abgeblättert, bloß der Name des Künstlers, Cordoba, war erhalten geblieben, auch für die, die das Wandgemälde im neuen Zustand nie gesehen hatten.
»Motherfuckers«, erklärte der Sergeant Major im melodischen Akzent der Virgin Islands. »Diese Garnison war einmal so was wie ein Paradies, und jetzt seh sich einer an, was davon übrig geblieben ist.«
James Preiss, ehemaliger Kommandeur des 4 th Battalion, 10 th Infantry und künftiger Kommandeur des komplett neu zusammengestellten Regiments, ignorierte das Geschimpfe des Sergeant Major, als die beiden nach links bogen und an der alten PX südlich des überwucherten Exerzierplatzes vorbeigingen. Preiss sah nach rechts und links – verschaffte sich ein Bild von den Schäden – und überlegte, in welcher Reihenfolge die
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