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Inversionen

Inversionen

Titel: Inversionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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wie wenig wir jemals wissen können.
    Die Zukunft ist von Natur aus unergründlich. Wir können ein kleines Stück von ihr mit einiger Zuverlässigkeit voraussagen, und je weiter wir versuchen, in das hineinzublicken, was noch nicht geschehen ist, desto mehr müssen wir später erkennen, wie töricht wir gewesen sind – mit dem Nutzen nachträglicher Einsicht. Selbst die offenkundig voraussehbaren Geschehnisse, die aller Wahrscheinlichkeit nach eintreten werden, können sich als unbeständig erweisen. Als damals, als ich noch ein Kind war, die Steine vom Himmel fielen, glaubten da Millionen von Menschen am vorangegangenen Abend etwa nicht daran, daß die Sonne am nächsten Morgen wie üblich aufgehen würde, ganz nach Plan? Und dann fielen die Steine und das Feuer vom Himmel, und über vielen Ländern ging die Sonne an diesem Tag nicht auf, und tatsächlich würde sie für viele Millionen Menschen niemals mehr aufgehen.
    Die Gegenwart ist in gewisser Hinsicht auch nicht sicherer, denn was wissen wir schon mit Bestimmtheit über das, was sich im Jetzt abspielt? Nur das, was in unserer unmittelbaren Umgebung geschieht. Der Horizont ist das übliche maximale Ausmaß für unsere Fähigkeit, den Augenblick zu erfassen, und der Horizont ist weit weg, die Ereignisse dort müssen also sehr groß sein, damit wir sie sehen können. Übrigens stellt in unserer modernen Welt in Wirklichkeit nicht der Horizont den Rand des Landes oder des Meeres dar, sondern die nächste Hecke, die Innenseite der Stadtmauer oder die Wand des Raumes, in dem wir wohnen. Vor allem die größeren Ereignisse neigen dazu, irgendwo anders stattzufinden. In dem Augenblick, als die Steine und das Feuer vom Himmel fielen, als mehr als die Hälfte der Welt im Chaos erwachte, war auf der anderen Seite des Globus alles in bester Ordnung, und es dauerte einen Mond oder noch länger, bis sich der Himmel durch ungewöhnliche Wolken verdunkelte.
    Wenn ein König stirbt, kann es einen Mond dauern, bis die Nachricht in den hintersten Winkel seines Reiches gedrungen ist. Es kann Jahre dauern, bis sie in Länder auf der anderen Seite des Ozeans dringt, und an manchen Orten, wer weiß, ist es vielleicht gar keine Neuigkeit mehr, wenn sie dort ankommt, sondern wird statt dessen zur jüngeren Geschichte und ist deshalb kaum der Erwähnung wert, wenn Reisende ihr Wissen über die neuesten Entwicklungen austauschen, so daß der Tod, der ein Land erschüttert und eine Dynastie der Macht enthoben hat, erst Jahrhunderte später ankommt, als kurzer Abschnitt in einem Geschichtsbuch. Ich wiederhole also, die Gegenwart ist in gewisser Hinsicht nicht ergründbarer als die Zukunft, denn es muß Zeit vergehen, damit wir erfahren, was sich zu irgendeinem angenommenen Zeitpunkt irgendwo ereignet hat.
    Und die Vergangenheit? Sicher finden wir dort Gewißheit, denn wenn einmal etwas geschehen ist, kann es nicht ungeschehen gemacht, kann es nicht durch Reden verändert werden. Es mag weitere Entdeckungen geben, die ein neues Licht auf das Geschehene werfen, aber die Sache selbst kann nicht geändert werden. Sie wird zwangsweise fest und sicher und bestimmt bleiben und deshalb Gewißheit in unser Leben bringen.
    Und dennoch, wie wenig sind sich die Historiker einig! Man lese nur einmal den Bericht über einen Krieg von der einen Seite und von der anderen. Man lese die Biografie eines großen Menschen, von jemandem geschrieben, der ihn verachtet, und dann seinen eigenen Lebensbericht. Vorsehung, man braucht nur mit zwei Dienern über dasselbe Ereignis, das sich an ein und demselben Morgen in der Küche abgespielt hat, zu sprechen, und es mag leicht sein, daß man zwei völlig unterschiedliche Erzählungen bekommt, in denen die, denen Unrecht geschehen ist, die Unrecht-Tuenden werden, und was in einer Erzählung völlig logisch erschien, wirkt in der anderen auf einmal völlig unmöglich.
    Ein Freund erzählt eine Geschichte, in der ihr beide, du und er, vorkommen, auf eine Weise, die sich, wie du weißt, so ganz und gar nicht abgespielt hat, doch die Art, wie er sie erzählt, ist erheiternder als die Wirklichkeit oder gibt ein besseres Spiegelbild von euch beiden wider, und deshalb sagst du nichts, und bald werden andere die Geschichte erzählen, wiederum verändert, und es dauert vielleicht nicht lang, da ertappst du dich dabei, daß du die Geschichte wider besseres Wissen auf eine Weise erzählst, wie sie sich mit Gewißheit nicht abgespielt hat.
    Jene von uns, die ein Tagebuch

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