Inversionen
zu werden.
Wiester, der Kammerherr des Königs, hatte uns in die Gemächer geführt. »Ist das alles, Hoheit?« fragte er, wobei er sich verbeugte und buckelte, so gut es sein stattlicher Körperbau zuließ.
»Ja. Das ist für jetzt alles. Geh!«
Die Ärztin setzte sich auf den Rand des königlichen Bettes und knetete mit ihren kräftigen, fähigen Fingern seine Schultern und seinen Rücken. Sie gab mir ein kleines Glas mit einer kräftig riechenden Salbe, in die sie hin und wieder die Finger tauchte, die Salbe über den breiten, haarigen Rücken des Königs verrieb und sie mit den Fingern und Handballen in seine blaßgoldene Haut arbeitete.
Während ich so dasaß, mit der Medizintasche der Ärztin neben mir, bemerkte ich, daß das Glas mit dem braunen Gel, das sie benutzt hatte, um die jämmerliche Gestalt in der Geheimen Kammer zu behandeln, noch immer geöffnet auf einer der genial gearbeiteten inneren Ablagen der Tasche lag. Ich machte Anstalten, einen Finger in das Glas zu tauchen. Die Ärztin sah, was ich vorhatte, packte schnell meine Hand, zog sie von dem Glas weg und sagte ruhig: »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, Oelph. Schraube lieber den Deckel wieder vorsichtig auf.«
»Was ist das, Vosill?« fragte der König.
»Nichts, Herr«, sagte die Ärztin, wobei sie die Hände wieder auf den Rücken des Königs legte und sich über ihn beugte.
»Uuchch!« sagte der König.
»Überwiegend Muskelverspannung«, sagte die Ärztin sanft und warf den Kopf so zurück, daß ihr Haar, das ihr teilweise ins Gesicht gefallen war, sich zurück über ihre Schultern ergoß.
»Mein Vater brauchte niemals so zu leiden«, murrte der König grämlich in sein von Goldfäden durchzogenes Kopfkissen, und seine Stimme klang wegen der Dicke und des Gewichts des Stoffes und der Federn tiefer als sonst.
Die Ärztin lächelte mich schnell an. »Wie meint Ihr das, Herr? Wollt Ihr damit sagen, er brauchte niemals meine ungeschickten Dienstleistungen zu ertragen?«
»Nein«, sagte der König und ächzte. »Ihr wißt, was ich meine, Vosill. Dieser Rücken. Sein Rücken hat ihm nie zu schaffen gemacht. Oder meine Wadenkrämpfe, oder meine Kopfschmerzen, oder meine Verdauungsbeschwerden oder irgendwelche sonstige Beschwerden und Schmerzen.« Er schwieg eine Zeitlang, während die Ärztin seine Haut schob und drückte. »Vater brauchte niemals unter irgend etwas zu leiden. Er war…«
»…in seinem ganzen Leben keinen einzigen Tag lang krank«, ergänzte die Ärztin unisono mit dem König.
Der König lachte. Die Ärztin lächelte mich an. Ich hielt das Glas mit Salbe, in diesem kurzen Augenblick unaussprechlich glücklich, bis der König seufzte und sagte: »Ach, welch süße Folter, Vosill.«
Woraufhin die Ärztin in ihrer schaukelnden, knetenden Bewegung innehielt und ein Ausdruck von Bitterkeit, sogar Verachtung flüchtig über ihr Gesicht huschte.
2. Kapitel
Der Leibwächter
Dies ist die Geschichte des Mannes, der unter dem Namen DeWar bekannt war, des Obersten Leibwächters von General UrLeyn, Erster Protektor des Protektorats Tassasen, während der Jahre 1218 bis 1221 imperialer Zeitrechnung. Der Großteil meiner Geschichte spielt im Palast von Vorifyr, in Crough, der alten Hauptstadt von Tassasen, während des schicksalhaften Jahres 1221.
Ich habe mich dafür entschieden, die Geschichte im Stil der jeritischen Fabeldichter zu erzählen, das heißt in der Form einer in sich geschlossenen Chronik, bei der man – sofern man geneigt ist, derartige inhaltsschwere Informationen zu glauben – die Identität der erzählenden Person erraten muß. Mein Beweggrund für dieses Tun ist, dem Leser Gelegenheit zu geben, sich zu entscheiden, ob er das, was ich über die Ereignisse jener Zeit zu berichten habe, glauben möchte oder nicht – die allgemeinen Tatsachen über diese Zeit sind natürlich allseits hinlänglich bekannt, und zwar in der gesamten zivilisierten Welt – ohne Beweise, allein aufgrund dessen, ob die Geschichte für ihn ›wahr klingt‹ oder nicht, und ohne die Vorurteile, die aus der Kenntnis der Identität des Erzählenden herrühren und den Geist des Lesers für die Wahrheit, die ich darstellen möchte, verschließen könnten.
Und es ist höchste Zeit, daß die Wahrheit endlich erzählt wird. Ich glaube, ich habe alle unterschiedlichen Berichte über die Geschehnisse in Tassasen während dieser bedeutsamen Zeit gelesen, und der auffälligste Unterschied zwischen diesen Berichten scheint
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