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Inversionen

Inversionen

Titel: Inversionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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der Grad zu sein, in dem sie überaus weitreichend von den eigentlichen Ereignissen abweichen. Insbesondere gab eine Version ein solches Zerrbild wieder, daß sie mich schließlich veranlaßte, die wahre Geschichte jener Zeit zu erzählen. Sie war in Form eines Schauspiels geschrieben, das angeblich auf meiner eigenen Geschichte beruhte, doch sein Ende hätte kaum weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen sein können. Der Leser braucht nur zu akzeptieren, daß ich bin, wer ich bin, damit seine Unsinnigkeit offenbar wird.
    Ich sage, dies ist DeWars Geschichte, dennoch räume ich freimütig ein, daß es nicht seine ganze Geschichte ist. Es ist nur ein Teil davon, und man kann durchaus der Meinung sein, daß es nur ein kleiner Teil ist, lediglich in Jahren gemessen. Es gab auch einen früheren Teil, aber die Geschichtsschreibung liefert nur ein sehr vernebeltes Wissen über die frühere Vergangenheit.
    Also, dies ist die Wahrheit, wie ich sie selbst erlebt habe oder wie sie mir von Leuten, denen ich vertraue, erzählt wurde.
    Die Wahrheit, so habe ich gelernt, bedeutet für jeden einzelnen etwas Unterschiedliches. Genau wie zwei Leute niemals einen Regenbogen von genau derselben Stelle aus sehen – und dennoch sehen ihn beide mit Sicherheit, während die Person, die dem Anschein nach genau darunter steht, ihn überhaupt nicht sieht – die Wahrheit ist also eine Frage des Standpunkts und der Richtung, in die man zu einer bestimmten Zeit blickt.
    Natürlich mag der Leser in dieser Hinsicht anderer Meinung sein als ich, und das steht ihm frei.
     
    »DeWar? Seid Ihr das?« Der Erste Protektor, Oberster General und Großädil des Protektorats Tassasen, General UrLeyn, hob sich die Hand über die Augen, um sich gegen den hellen Glanz des fächerförmigen Stuck- und Edelstein-Fensters über dem polierten schwarzen Bernsteinboden des Saales zu schützen. Es war Mittag, und Xamis und Seigen schienen draußen hell an einem klaren Himmel.
    »Herr«, sagte DeWar und trat aus dem Schatten am Rand des Raums, wo die Landkarten in einem großen Holzgitterverschlag aufbewahrt wurden. Er verneigte sich vor dem Protektor und legte eine Karte auf den Tisch vor sich. »Ich denke, dies ist die Karte, die Ihr vielleicht braucht.«
    DeWar: ein großer, muskulöser Mann Anfang der mittleren Jahre, dunkelhaarig, dunkelhäutig mit dunklen Brauen und tiefliegenden, zusammengekniffenen Augen und einem lauernden, grüblerischen Aussehen, das durchaus zu seinem Beruf paßte, den er einmal als Mörder-Morden beschrieben hatte. Er wirkte gleichzeitig entspannt und angespannt, wie ein Tier, das ständig bereit zum Sprung auf den Hinterpfoten kauert, jedoch ohne weiteres fähig, in dieser geduckten Stellung so lange zu verharren, bis seine Beute in Reichweite kommen und die Wachsamkeit fallenlassen würde.
    Er war in Schwarz gekleidet, wie immer. Seine Stiefel, seine Beinkleider, seine Tunika und die kurze Jacke waren allesamt so dunkel wie eine Nacht bei Mondfinsternis. Ein schmales Schwert in einer Scheide hing an seiner rechten Hüfte, ein langer Dolch an seiner linken.
    »Ihr holt jetzt die Landkarten für meine Generäle, DeWar?« fragte UrLeyn belustigt. Der General der Generäle von Tassasen, der Bürgerliche, der Adelige befehligte, war ein verhältnismäßig kleiner Mann, der aufgrund seines umtriebigen, kraftvoll-emsigen Charakters beinahe jedem das Gefühl vermittelte, selbst nicht größer zu sein als er. Sein Haar war scheckig, grau und schütter, doch seine Augen strahlten hell. Man bezeichnete seinen Blick im allgemeinen als ›bohrend‹. Er war mit der Hose und der langen Jacke bekleidet, die er bei vielen seiner Kollegen in der Generalität und weiten Teilen der Geschäftswelt von Tassasen in Mode gebracht hatte.
    »Wenn mein General mich wegschickt, Herr, ja«, antwortete DeWar. »Ich versuche alles in meiner Macht Stehende zu tun, um zu helfen. Und solche Tätigkeiten helfen mir zu verhindern, daß ich im Geiste bei den Gefahren verweile, denen sich mein Herr aussetzen mag, wenn er mich von seiner Seite wegschickt.« DeWar warf die Karte auf den Tisch, wo sie sich entrollte.
    »Die Grenzen… Ladenscion«, hauchte UrLeyn, wobei er die glatte Oberfläche der alten Landkarte tätschelte und dann mit boshaft-schelmischer Miene zu DeWar aufblickte. »Mein lieber DeWar, die größte Gefahr, der ich mich bei solchen Gelegenheiten aussetze, ist wahrscheinlich eine unangenehme Erfahrung mit einem jungen Mädchen, das mir neu zugeführt

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