Irgendwann Holt Es Dich Ein
Susan gewesen.
Sie beobachtete Susan, die allein dastand, als hielte sie sich bewusst von allen anderen fern. Sie überlegte, ob sie zu ihr gehen und sie begrüßen solle. Zögernd erhob Kate sich und schalt sich für ihre Unsicherheit. Sie sollte wirklich über den Dingen stehen; immerhin war ihre Schulzeit Jahre her. Du bist eine erfolgreiche Frau von fast vierzig, sagte sie sich. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst. Aber noch während Kate sich Mut zuredete, drehte Susan den Kopf ein wenig und sah sie direkt an. Kate versuchte, Susans Miene zu deuten, und stellte verwundert fest, dass Susan anscheinend geweint hatte. Sie hatte zwar weder die typischen roten Flecken auf den Wangen noch rote Ränder an der Nase, was bei Kate gewiss der Fall war, doch in Susans Augen lag ein verräterischer Glanz, der von Tränen rühren musste, die sie offenbar mit aller Kraft zurückhielt. Susan starrte Kate an, und Kate fühlte sich gleichsam festgenagelt von diesem Blick. Dann öffnete Susan den Mund, als wolle sie etwas sagen, lächeln oder Kate zu sich rufen, vielleicht aber auch nur eine abfällige Grimasse ziehen. Bevor Kate herausfand, was Susan vorhatte, packte jemand ihre Schulter.
Es war ein kleiner Mann, in den Sechzigern, wie Kate vermutete, mit einem bleichen, teigigen Gesicht. Er trug einen billigen, speckigen Anzug und sprach Kate an. »Kennen Sie mich noch?«, fragte er, und Kate blinzelte verwirrt. Nein, sie kannte ihn nicht, hatte keine Ahnung, wer das war, und nahm an, dass er sie mit jemandem verwechselte. Sie sah wieder zu Susan hinüber, doch die war fort, spurlos verschwunden, als wäre sie nie da gewesen.
»Wer war das?«, fragte Neil, der aus dem Nichts neben ihr auftauchte.
»Wer war wer?«, erwiderte sie und merkte, dass sie zu abweisend klang.
»Der Mann, der dich angetatscht hat.«
Ein Glück! Sie hatte schon befürchtet, dass er Susan meinte. »Ich habe keinen Schimmer. Irgendein Freund von Hattie, schätze ich. Er muss mich mit jemandem verwechselt haben.«
ZEHN
Ein großes Paket stand auf Kates Schreibtisch, als sie am nächsten Tag zur Arbeit kam. Im ersten Moment war sie verärgert. Irgendwer hatte gedankenlos einen sperrigen Karton auf ihren Schreibtisch gestellt, und sie musste ihn jetzt wegräumen, ehe sie den Computer hochfahren und ihre Sendung vorbereiten konnte. Sie versuchte, den Karton anzuheben. Er war schwer und so riesig, dass sie ihn knapp mit den Armen umfassen konnte.
Immerhin schaffte sie es, das Ding auf den Fußboden zu stellen. Dann bückte sie sich, um ihn genauer anzusehen, und stellte fest, dass das Paket für sie war. Ihr Name und die Adresse des Senders standen auf dem Lieferschein in der aufgeklebten Plastikhülle. Der Karton musste tags zuvor von einem Kurier geliefert worden sein.
An dem Paket war nichts Ungewöhnliches, sagte Kate sich. Sie bekam dauernd Sachen in den Sender geschickt. Schließlich moderierte sie eine Radiosendung, und die Leute wollten, dass sie ihre Produkte im Radio erwähnte. Ihr Name und ihre Kontaktdaten standen auf den Verteilern aller möglichen PR-Agenturen. Sie erhielt Bücher, DVDs, Kosmetikprodukte, Präsentkörbe und sonstige Geschenke, die normalerweise von einer Pressemitteilung und der Bitte um ein Interview begleitet wurden. In Kates Rundfunksender galten klare Regeln für den Umgang mit Geschenken: Alles, was besonders wertvoll oder ausgefallen war, wurde beiseitegestellt und in der jährlichen Wohltätigkeitssendung von Warm FM versteigert. Die übrigen Sachen kamen auf einen Tisch in der Mitarbeiterküche, wo sich jeder nahm, was er wollte.
Es war vollkommen normal, dass Kate im Sender unerwartet Pakete bekam. Als sie sich jedoch daranmachte, das Paket zu öffnen, indem sie sich mit einer Schere durch das klebrige Paketband arbeitete, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Sie musste an Hattie denken. Ein Unbekannter hatte Hattie Pakete geschickt, die sie öffnete. Und die hatten Hattie in den Wahnsinn getrieben. Hattie war eine öffentliche Person gewesen. Jeder hatte ihre Studioadresse nachschlagen und ihr Dinge schicken können. Das ist eben der Preis, den man manchmal zahlen muss, dachte Kate.
Auch Neil wurde mit Post bombardiert. Er bekam dicke Umschläge voller Dokumente und verrückte Briefe von Leuten, die ihn auf irgendwelche Ungerechtigkeiten aufmerksam machen wollten, in denen er ermitteln sollte. Einmal hatte Neil sogar einen Umschlag voller Glasscherben von einem Mann erhalten, der sich über
Weitere Kostenlose Bücher