Irgendwann Holt Es Dich Ein
eine von Neils Geschichten geärgert hatte. Seitdem beherzigte Neil bei seiner Post gewisse Regeln: Alles, was ungewöhnlich, verrückt oder krakelig aussah, mit grüner Tinte geschrieben oder mit zu viel Packband oder Schnur versehen war, wurde gar nicht erst geöffnet. Kates Sender hatte nach dem 11. September und den Anthrax-Anschlägen ähnliche Richtlinien erlassen: Auffällige Sendungen mussten erst von einem leitenden Manager geprüft werden, bevor sie geöffnet wurden. Aber diese Vorgaben wurden zumeist ignoriert. Briefe von Irren gehörten nun einmal zum Alltag, wenn man in einem Rundfunksender arbeitete. Und manchmal sorgten sie auch für eine willkommene Ablenkung. Dieser Karton hier jedenfalls wirkte ganz und gar nicht verdächtig. Trotzdem wurde Kate zusehends nervöser.
Laura von den Verkehrsmeldungen und Anna von den Morgennachrichten beobachteten Kate gespannt. Es war ein alberner Scherz zwischen ihnen dreien, dass sie sich geradezu kindisch über Werbegeschenke freuten. »Vielleicht ist das ein toller Präsentkorb für Weihnachten«, sagte Laura. »Geräucherter Lachs, köstlicher Christmas-Pudding und ein paar richtig teure Käsesorten.«
»Nun mach schon, Kate, schneller! Das Paket kam gestern schon, und wir zermartern uns das Hirn, was da wohl drin ist. Der Karton ist sagenhaft groß!« Anna, die für gewöhnlich eine ernsthafte, sachliche Journalistin war, hüpfte übertrieben aufgeregt auf und ab. »Vielleicht schickt dir ein stinkreicher Hörer das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten!«
Kate öffnete den Karton und sah einen großen Geschenkkorb mit Deckel, der mit rosa und hellblauen Schleifen verziert war. Bisher wirkte noch alles normal, wie ein herkömmliches Pressegeschenk. Laura half Kate, den Korb aus dem Karton zu wuchten, und gleichzeitig fiel ihnen der kleine Geschenkanhänger in Form eines Teddybären auf. »Für Kate Callan« war auf die Rückseite gedruckt. Kate zog die Schleifen auf und hob langsam den Deckel ab. Was erwartete sie? Essen. Süßigkeiten. Kosmetika. Irgendetwas Ausgefallenes, biologisch Wertvolles und wahrscheinlich Weihnachtliches.
Ausgefallen war es allemal. In dem Korb, umhüllt von rosa und hellblauem Seidenpapier, befand sich eine Auswahl sehr teuer aussehender Baby-Pflegeprodukte: Lotion, Puder, Stoffwindeln aus ungebleichter Baumwolle, eine Rassel und ein paar Stofftiere. Kate erstarrte für einen Moment, atmete tief durch und ermahnte sich, Laura und Anna nicht sehen zu lassen, was in ihr vorging. Vergraben unter den Babysachen lag ein an Kate adressierter Umschlag, den sie mit zitternden Händen öffnete.
»Glückwunsch! Sie sind Mutter geworden!«, stand vorn auf der Klappkarte, und auf der Innenseite befand sich ein persönliches Anschreiben: »Liebe Kate Callan, als anspruchsvolle berufstätige Mutter, die sich für die Umwelt interessiert, werden Sie erfreut sein, unsere neue umweltfreundliche Baby-Pflegeserie kennenzulernen, die Sie ab sofort über unseren Versandkatalog bestellen können ...«
Der Rest des Schreibens war wie üblich, ein Standardwerbetext, ein bisschen übertrieben vielleicht, aber letztlich nur eine Gratisprobe, mit der sich die Leute ein Radiointerview oder zumindest eine Erwähnung in ihrer Sendung sichern wollten. Eine gezielte Marketingaktion, nur zielte sie auf die falsche Person. Kate war keine Mutter und würde nie eine sein.
Laura und Anna widmeten sich derweil verzückt dem Korbinhalt, waren begeistert von den weichen Stofftieren, den niedlichen Behältern für Lotion und Puder. Kate hoffte, dass sie weder ihre zitternden Hände noch ihre geröteten Wangen bemerkten. Die Karte zeigte sie ihnen nicht, sondern versteckte sie in ihrer Hosentasche. Dann machte sie eine spitze Bemerkung darüber, dass wahrscheinlich sämtliche Rundfunkmoderatorinnen in England so einen Korb bekamen. Sie wollte vorschlagen, dass sie den Korb auf den Tisch in der Teeküche stellten, aber Laura hatte sich bereits die Babylotion und eines der Stofftiere genommen, einen blassgrünen Hasen mit Schlappohren. Sowie Kate unauffällig rausgehen konnte, lief sie zur Behindertentoilette (eine einzelne verschließbare Kabine und mithin der beste Ort im ganzen Gebäude, um wirklich allein zu sein), und wartete darauf, dass die Tränen kamen.
Doch nichts geschah. Sie konnte nicht weinen. Sie zitterte zwar, war aber nicht verstört genug, um zu weinen. Vielmehr war sie verwundert, fasziniert, neugierig und auch ein bisschen erschrocken. Eine
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