Irgendwann Holt Es Dich Ein
erfahren, und die daraufhin fällige Unterhaltung wollte sie wahrlich noch nicht führen. Sie stellte sich in die Schlange vor dem Kaffeetisch und hatte vor, Neil ebenfalls eine Tasse zu holen und zu ihm nach draußen zu gehen, um zu hören, was er mit den anderen redete.
Als ihr jemand auf die Schulter tippte, schrak sie zusammen. Beim Klang der klirrend scharfen Stimme wurde ihr eiskalt. »Kathryn Small.«
Kate ertappte sich dabei, wie sie die Schultern hob und den Kopf einzog: eine typische Reaktion aus ihrer Schulzeit. So hatte sie damals stets reagiert, wenn sie angesprochen wurde, doch inzwischen hatte sie dieses Verhalten längst abgelegt. Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich. Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Hier kann dir niemand etwas tun. Du bist eine erwachsene Frau, es besteht gar kein Grund, sich zu fürchten.
Kate drehte sich um und sah eine blonde, pummelige Frau mit einem wachen Gesicht. Sie trug ein langes dunkles Kleid mit Blumendruck, das um die Hüften ziemlich unvorteilhaft spannte. Dazu trug sie eine Perlenkette und flache Ballerinas. Kate erkannte sie nicht gleich und sah sie fragend an. Sie wusste, dass es sich um eine frühere Mitschülerin handeln musste, denn niemand sonst würde sie mit »Kathryn Small« ansprechen. Die pummelige Blonde lächelte freundlich und streckte den Kopf vor. Offenbar beabsichtigte sie, Kate auf die Wange zu küssen, und ihrem Gesichtsausdruck nach zweifelte sie keine Sekunde daran, dass Kate sie ebenfalls erkannte. Auf einmal wusste Kate tatsächlich, wer diese Frau war, die ungefähr in ihrem Alter war, sich jedoch nicht sonderlich gut gehalten hatte; diese Frau mit dem ziemlich gewöhnlichen, durchschnittlich hübschen Gesicht. Das war Serena Lacey, die frühere Nummer eins unter den Schülerinnen an der Lady Jane Grey.
Serena Lacey war das beliebteste Mädchen in Kates Jahrgang. Das dachte damals jeder, wobei »beliebt« in diesem Zusammenhang eine eigene Bedeutung hatte. Es war nicht unbedingt so, dass alle anderen Mädchen sie wirklich mochten, obgleich es viele taten. Hauptsächlich hieß »beliebt«, dass die anderen Mädchen wie Serena sein und von ihr gemocht werden wollten. Serena war hübsch, aber nicht zu hübsch gewesen, klug, aber nicht intellektuell oder streberhaft, sportlich, aber nicht übereifrig. Sie war mit dem Selbstvertrauen der Töchter aus sehr gutem Hause gesegnet, das häufig hart an Arroganz grenzte, und sie war auf eine Weise konventionell, die schlicht ideal erschien. Die Lehrer liebten sie; selbstverständlich wurde Serena Lacey zur Schulsprecherin gewählt. Serena hatte den weniger beliebten Mädchen gegenüber eine freundlich überhebliche Art an den Tag gelegt, ohne verletzend zu sein. Viele hätten sie wahrscheinlich als »umgänglich« oder »sozial« bezeichnet, und alle auf der Lady Jane Grey hatten sie geliebt - alle außer Kate Callan, geborene Kathryn Small. Sie hatte Serena aus gutem Grund gehasst.
Nun beugte Kate sich dem Wangenkuss entgegen, weil man das in solchen Momenten, bei solchen Anlässen eben tat. Zivilisierte Erwachsene verhielten sich so. Man benahm sich, als wäre man eng befreundet, als wäre man begeistert, einander zu begegnen. Während Kate Serenas Wange an ihrer fühlte, fragte sie sich kurz, was geschehen würde, sollte sie plötzlich in das weiche Fleisch beißen, das Serena ihr hinhielt. Der Gedanke war so komisch, dass Kate unweigerlich grinsen musste. Dann merkte sie, wie Serena sie gänzlich unerwartet umarmte. Serena presste ihre Wange an Kates und drückte sie fest an sich. »Du armes Ding!«, sagte sie. »Wie furchtbar, das mit ansehen zu müssen.«
Eine Umarmung. Als würde dadurch alles wieder gut. Als könnte sie die Vergangenheit fortwischen. Kate zog sich möglichst rasch zurück, ohne zu zeigen, dass diese Frau bis heute eine gewisse Macht über sie besaß.
»Ich habe das von dir in der Zeitung gelesen«, fuhr Serena fort, als sie Kate aus ihren Armen entließ. »Zuerst war mir gar nicht klar, wen sie meinten, denn an eine Kate Callan aus unserem Jahrgang konnte ich mich nicht erinnern. Aber dann ist mir wieder eingefallen, dass du mit Hattie befreundet warst, und da wusste ich Bescheid.« Sie gab ein resigniertes Stöhnen von sich und setzte eine Miene auf, die so viel sagen sollte wie: Schön blöd von mir! »Natürlich, Kathryn Small! Und weißt du was? Seit ich das über dich in der Zeitung gelesen habe, höre ich mir immer deine Radiosendung an. Wie aufregend,
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