Irgendwann passiert alles von allein
an der Kasse der Tankstelle. Wir waren uns seit Fabians Party nicht mehr über den Weg gelaufen.
Ich wusste nicht mehr genau, was in jener Nacht noch passiert war. Als ich am nächsten Morgen aufgewacht war, lag ich in einer Badewanne. Mein Oberkörper war nackt, eine Hose trug ich auch nicht, dafür aber Schuhe. Offensichtlich hatte ich einen Duschvorhang als Decke benutzt, der penetrant nach Bier roch. Überhaupt roch alles nach Bier, meine Mundhöhle schmeckte, als hätte sie jemand als Aschenbecher benutzt. Ich richtete mich auf. Neben mir auf dem Boden lag der dicke Felix aus der Parallelklasse. Er war nackt, nur ein Waschlappen hing über seinem Schwanz. Es stank nach Kotze. Ich suchte meine Hose, fand sie neben dem Klo und griff in meine Hosentasche. Mein Geldbeutel und der zerknitterte Brief waren noch da. Ich hatte keine Lust, mein T-Shirt zu suchen. Ich ging nach unten, stolperte beinahe über Fabians Riesenbong, die jemand auf eine Treppenstufe gestellt hatte. In der Garderobe fand ich unter einem dicken Stapel meine Jacke. Ich zog den |71| Reißverschluss bis knapp unter den Hals hoch und ging nach Hause. An den Brief zu denken und was davon wer auch immer gelesen hatte, weigerte ich mich. Ich wollte ihn vergessen.
Zweieinhalb Wochen später hatte Fabian noch immer sturmfrei. Leo hatte sich inzwischen eingenistet und Fabian eine Hose aus dem Skaterladen dafür geschenkt, die dem Zwerg natürlich viel zu groß war. Fabian aber trug sie trotzdem, weil ihm ohnehin alle seine Klamotten viel zu groß waren und ihm das eigentlich gut stand. Am Abend, als ich Carina wiedersah, hingen wir bei Fabian ab. Der Alkohol war ausgegangen und Sam und ich waren zur Tankstelle gelaufen, um neuen zu besorgen.
Eine Stimme sagte freundlich, aber genervt: »Macht 16 Mark 49.« Ich hatte gehofft, sie stünde nicht hinter der Kasse. Alles, was passiert war, lag so derart im Unklaren, dass mir kein sinnvoller Anknüpfungspunkt einfiel. Ich meine, etwas Witziges oder Charmantes zu sagen, wenn man bekifft ist, ist eh schon anstrengend genug, aber wenn man sich dann noch unter Druck gesetzt fühlt, geht das überhaupt nicht mehr.
»Jägermeister«, rief Sam plötzlich über die Regale mit den Tütensuppen, Keksen und Stofftieren hinweg. »Ich nehm einfach zwei Flaschen Jägermeister.« Er hielt kurz inne. »Und Tequila. Tequila auch noch.«
»Vielleicht auch noch Bier«, murmelte ich zu leise, als dass Sam es verstehen konnte.
Ich ging zum Kühlregal, in dem die Flaschen Augustiner |72| standen. Als ich die dritte Flasche unter meinen linken Arm geklemmt hatte, fiel mir auf, dass ich so viele Flaschen nicht auf einmal tragen konnte. Zurücklegen wollte ich sie nicht mehr. Zur Kasse gehen ging aber so nicht. Ich stellte zwei Flaschen in das Regal zurück. Ich nahm vier neue wieder raus und steckte eine in meine Hosentasche. Das konnte funktionieren. Ich steckte eine zweite in die andere Hosentasche. Meine Hose, die eh nur knapp über meinem Hintern Halt fand, begann zu rutschen. Das konnte eben nicht funktionieren. Das war alles Scheiße. Sie beobachtete mich. Ich fühlte ihre Blicke. Meine Hose. Was machte Sam da eigentlich? Wieso kam er nicht, um mir zu helfen? Er musste doch verdammt noch mal sehen, dass das alles gerade Scheiße war. Meine Hose rutschte tiefer. Gleich würde sie den letzten Halt verlieren und dann …
»Sam!«, rief ich zornig.
»W-w-was?«
Ich musste meine Hose jetzt festhalten. So löste sich eine der Flaschen, die zwischen meiner Brust und meinem Ellbogen eingeklemmt waren. Sie schlug auf dem Linoleum auf. Ich stand in einer Lache aus Bier.
»Nix w-w-was«, rief ich. »Scheiße! D-d-das.«
Sam lachte und dann kam sie. Sie hatte eine Mülltüte in der Hand und bückte sich vor mir, um die Scherben aufzusammeln. Ich hielt noch immer die Bierflaschen und versuchte, sie ins Regal zurückzustellen. Wichtig war jetzt meine Hose. Sie kniete vor mir und pickte die Scherben aus der Lache. Endlich, ich hatte eine Hand frei, dann beide. Ich holte blitzschnell die Flaschen aus |73| meinen Hosentaschen und zog meine Hose hoch bis über meinen Bauchnabel.
Als sie alle Scherben aufgesammelt hatte, drückte sie mir die Mülltüte in die Hand.
»Hier, halt mal«, sagte sie.
Sam stand vor dem Zeitschriftenregal und blätterte im ›Spiegel‹.
Manchmal machte Sam mir ein bisschen Angst, aber dann kam er mir wieder wie ein großes Stofftier vor. Sam konnte so angenehm simpel sein. Manchmal nervte er
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