Irgendwann passiert alles von allein
Raus. Jetzt! Wir müssen raus!« Er sprang auf, die S-Bahn stand bereits seit ein paar |67| Sekunden. Ich sah drei ältere Männer. Einer trug eine unmodische und für den Tag viel zu warme Kunstlederjacke. An der Hüfte des anderen baumelte eine kleine Ledertasche. Sam verschüttete sein Bier, als er aufsprang. Im letzten Moment entwischten wir durch die zischende, sich schließende Tür. Die S-Bahn fuhr ohne uns weiter.
»Kontrolletis«, sagte Leo und zündete sich trotz Rauchverbots eine Zigarette an. Als ihm ein älterer Herr einen bösen Blick zuwarf, blies er den Rauch demonstrativ in dessen Richtung.
» F-Ficker f-f-icken«, stotterte Sam.
Leo setzte seinen Kopfhörer wieder auf und verwandelte sich abermals in den Träumer, der er die ganze Fahrt über gewesen war.
Wir stiegen in die nächste S-Bahn . Vor dem Menschengewirr am Marienplatz waren wir durch eine Wand geschützt. Das Gras wattierte alle Eindrücke und dämpfte die Reize. Wir hatten ein Ziel, wir schwiegen.
Als wir die Treppen des U-Bahn -Geschosses an der Münchner Freiheit hinaufstiegen, empfing uns ein wohliges Chaos. Gegenüber vom Footlocker verkaufte ein Inder Essen. Die Sonne schien. Ein Stück weiter roch es nach Döner. Die Bäume auf dem kleinen Platz blühten. Mädchen, überall waren Mädchen. Und vorne an der Ecke war er, der McDonald’s. Wir kauften Cheeseburger, Big Mäcs, McRibs, Chicken McNuggets. Milkshakes mit Vanillegeschmack, Cola, Pommes frites und Leo am Ende noch eine Apfeltasche und aßen. Wir kauften wirklich alles, was auf dem Menü stand. Wir |68| kauften sogar vier McRib-Burger, obwohl der McRib eindeutig der beschissenste Burger bei McDonald’s ist und keiner außer Leo McRib mochte und der auch nur, weil er eigentlich alles aß. Jedenfalls kapierte ich in diesem Moment zum ersten Mal richtig, was viel Geld bedeutet. Ich meine, wer hat schon einmal alles, wirklich alles bei McDonald’s gegessen, was es gibt?
Der Laden lag in einer Seitenstraße, die von dem kleinen Platz mit dem McDonald’s abging. Dort gab es weite Hosen, Kapuzenpullis, Schuhe, T-Shirts mit Cannabis-Aufdrucken, aber auch Skateboards. Jedes Mal, wenn ich genug Geld vom Zeitungsaustragen zusammengespart hatte, war ich mit Sam oder Schenz dorthin gefahren, um ein T-Shirt für 40 Mark oder eine Hose im Sonderangebot zu kaufen. Hinter der Kasse stand jedes Mal eine blonde Frau mit einem feinen, ovalen Gesicht. Ihre blonden Haare waren mit Gel auf der Stirn fixiert, an ihren Ohrläppchen leuchteten große, silberne Ringe. Sie trug Skaterklamotten und ehrlich, bei uns auf dem Land gab es keine cool angezogenen Mädchen. Die Mädchen auf dem Land hörten auch keine Musik, sie gingen in die Schule, lernten, hatten einen Freund mit Auto und interessierten sich sonst für – nix.
Als wir den Laden betraten, sortierte sie Rechnungen. Wir trauten uns nicht zu grüßen, sondern gingen zielstrebig in den hinteren Teil des Ladens, dort wo die Hosen und T-Shirts hingen. Leo und ich nahmen vier T-Shirts und Hosen von der Stange und außerdem Caps und so Dinge, die man sonst in solchen Läden nie |69| kauft, wie einen Gürtel oder so, und wollten damit zur Kasse.
»Willst du sie nicht erst mal anprobieren?«, fragte Schenz.
Leo brummte und ging mit dem Stapel in die Umkleidekabine, in der ich schon wartete. Sonnenlicht fiel durch ein Fenster zur Straße auf mein Gesicht. Das Fenster stand offen. Leo deutete auf die Straße. Ich öffnete die Kabinentür einen Spalt und rief Sam. Der ging wieder zu Schenz, flüsterte ihm etwas zu und Schenz verließ den Laden, nachdem er ein T-Shirt gekauft hatte. Er wartete vor dem Fenster auf der Straße, aus dem nun Hosen, T-Shirts und ein Kapuzenpulli flogen. Anschließend kauften wir noch zwei Hosen und einen Gürtel und drückten der Frau drei alte Scheine in die Hand. Natürlich war das irgendwie behindert, Klamotten zu klauen, die wir eh hätten bezahlen können. Aber wer ist denn auch so blöd und baut eine Umkleidekabine vor ein Fenster?
Die blonde Frau lächelte, als wir den Laden verließen – das war mehr, als ich im gesamten letzten Jahr hier ausgegeben hatte. Wir lächelten zurück und liefen die Straße entlang Richtung Englischer Garten. In unseren Rucksäcken steckten Klamotten im Wert von fast 1000 Mark.
Das Leben war einfach und es gehörte uns. Wer uns etwas anderes erzählte, der war entweder ein Lügner oder ein Loser.
|70| Sieben
Ich sah Carina an einem Samstagabend wieder. Sie stand
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