Irgendwann passiert alles von allein
nicht vom Strasser zurückholen. |90| Du kaufst dir einfach eine neue. Oder willst du vielleicht, dass der Strasser und seine Lakaien die Kohle rausholen?«
»Vielleicht weiß der Strasser oder irgendjemand anders, dass wir Geld gefunden haben«, sagte ich. »Aber sie haben doch keine Ahnung, wo das Haus ist. Es gibt Hunderte Häuser in Meining.«
»Der Strasser ist vielleicht ein Depp, aber blöd ist er auch nicht. Ich kenne ihn, ich war mit ihm auf der Grundschule. Er muss sich doch nur umhören, wo in Meining verlassene Häuser stehen. Wir müssen, ich sag’s euch, wir müssen so schnell wie möglich rein und uns das Geld holen. Das ist sogar sicherer.« Er wandte sich an mich. »Verstehst du, es ist viel sicherer, wenn nur wir vier das Geld haben, als wenn es viele wissen. Stell dir nur mal vor, was passiert, wenn der Strasser und seine Spasten da Geld rausholen! Die Typen checken doch nichts … Wenn die von dem Haus wissen, kannst du gleich Flugblätter verteilen. Wir! Wir müssen rein und sonst niemand!«
»Ja, okay«, sagte Schenz. »Wahrscheinlich hast du recht. Der Strasser ist ein Wichser. Es ist unser Haus und unser Geld. Wir holen das raus und dann gehört uns alles.«
Ich fragte: »Ihr meint, es ist noch mehr Geld drinnen?«
»Muss noch mehr drin sein, wir haben nicht mal richtig gesucht und trotzdem 5000 Mark gefunden«, sagte Leo.
Mein Bauch krampfte, ich fragte: »Wann?«
|91| »Morgen Nachmittag.«
»Morgen Nachmittag?«
»Morgen Nachmittag.«
Wir nickten.
Nur Sam hatte die ganze Zeit nichts gesagt.
|92| Neun
Ich putzte mir die Zähne, legte mich ins Bett und rauchte eine Zigarette. Mir gefiel das Dunkelblau der Zigarettenschachtel besser, als die Zigarette schmeckte. Das Fenster stand offen und alles – der Rauch, die Zigarettenschachtel, meine Haut, die Wände – schimmerte dunkelblau.
Ich dachte an Hilde Stetlow. Ich stellte mir eine etwa 6 5-jährige , leicht dickliche Frau in einem bunten Kittel vor. Das graue Haar trug sie zu einem Dutt hochgesteckt, dessen Strenge sich im Laufe des Tages und seiner Arbeiten auflöste und gegen Abend völlig zerzaust war. Hilde Stetlow war eine gutmütige, aber mit zunehmendem Alter leicht verwirrt werdende Frau. Die meiste Zeit des Tages lächelte sie – oft aus Freude, noch öfter aus Unsicherheit. Alles an ihr, ihr Gesicht, ihr Körper, ihr Dutt, war rund. Seit einiger Zeit überforderten sie die Hausarbeit und die Pflege ihrer Schwester ein wenig. Zwar erledigte sie alle Arbeiten nach wie vor zuverlässig, doch gingen sie ihr nicht mehr so leicht von der Hand wie noch vor einigen Jahren, sodass sie am Abend immer öfter erschöpft ins Bett sank. Manchmal, wenn ihre Schwester nachts um Hilfe schrie und Hilde aufstand, um nach ihr zu sehen, erwischte sie sich bei |93| einem grausigen Gedanken, dessen einziges ihr bekanntes Gegengift war, sich zu bekreuzigen. Sie wünschte sich den Tod ihrer siechenden Schwester Gertrud herbei. Nachdem sie das Kreuz über ihrer Brust geschlagen hatte, tauchte jedes Mal ein neuer, drängender Gedanke auf. Wenn ihr Sohn nur da wäre! Alles wäre anders, wenn er hier und nicht dort in den USA wäre, wo sie nicht einmal wusste, mit was er sein Geld verdiente. Seine Hilfe wäre ihr lieber als der Hundertdollarschein, der jeden Monat in einem Luftpostumschlag in ihrem Briefkasten lag. Sie sammelte die Dollarnoten immer ein Jahr lang, um dann immer kurz vor Weihnachten nach München zu fahren und sie dort in Mark umzutauschen. Seit Jahren ging das so. Hilde Stetlow traute keiner Bank, Banken waren ihr unheimlich, deswegen versteckte sie die Scheine an allen möglichen Ecken im Haus. Das Geld legte sie für schlechte Zeiten zurück. Doch die kamen nicht und so wuchs Jahr für Jahr der Stapel mit den Hundertmarkscheinen.
Ich hatte Mondschein bisher immer für Kitsch gehalten, Mondlicht war etwas für Menschen, die ohne Straßenlaternen leben. Doch in diesem Moment fiel tatsächlich ein silbernes Licht in das Zimmer. Ich war begeistert von der Atmosphäre und erinnerte mich an den Krümel Haschisch, der noch irgendwo in meiner Hosentasche lag. Er reichte gerade für ein Zweiblatt für mich alleine.
Der Rauch brachte Unruhe mit. Meine Gedanken wurden fahrig. Das Bild von Hilde Stetlow veränderte sich. Aus der dicken, rundlichen Frau wurde eine ausgemergelte, |94| sehnige Gestalt. Ihr Dutt zerfaserte, die Haare standen wild von ihrem faltigen Kopf ab. Auf ihrem Kittel waren Flecken aller Art: Kaffee, Ketchup,
Weitere Kostenlose Bücher