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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Mattheis
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Plötzlich zeichnet sich am Horizont ein Ende ab. Die Straße hat ein totes Ende, der Hund ein Ziel. Er trabt, ein Duft schleicht sich in seine Nase. Er läuft schneller, der Rhythmus des Tapsens seiner Pfoten beschleunigt sich, taptaptaptaptaptap. Er riecht Fleisch. Seine Muskeln vibrieren, alles in ihm beginnt in ein und dieselbe Richtung zu ziehen. Die Monotonie der Straße, die verbotenen Häuser und Gärten, sie werden zur Leitplanke, die ihm den Weg weisen. Der Duft des toten Fleisches durchströmt sein Gehirn, seine Augen erfassen das Ziel, den verlockend rötlich schimmernden Haufen. Es gibt keine Zweifel mehr, keinen widerstrebenden Gedanken, keine Ablenkung, alles ist klar. Mit der ganzen Kraft, die seine Kiefer aufbringen können, stürzt er sich |101| in das feuchte Fleisch. Keuchend und grunzend reißt er einen Brocken heraus, sein Schädel überdreht sich von der Wucht nach links. Es gibt nur noch ihn und das Fleisch. Er frisst und noch Minuten nach seinem Tod zuckt sein vergifteter Körper in der Nachmittagssonne.
     
    Die roten Digitalziffern meines Radioweckers zeigten 5:46   Uhr an, als ich aufwachte. Mir war schlecht und ich dachte an Franz’ Pizza Regina. Ich ging aufs Klo und blickte für einen kurzen Moment in den Spiegel. Ich muss dazu sagen, dass ich Spiegel nicht mochte: In Kaufhäusern, U-Bahnhöfen , sogar in Umkleidekabinen versuchte ich Spiegeln auszuweichen. In dem Bild, das ich von mir im Kopf hatte, war ich einigermaßen okay. Ich musste das nicht ständig überprüfen, wenn es ja in Ordnung war. Auf jeden Fall sah ich jetzt nicht gut aus: Meine Haare standen wirr ab und meine Augen waren rot geädert. Ich dachte, es muss furchtbar sein, wenn man irgendwann mal einen Job hat, bei dem man so früh aufstehen muss. Ich weiß nicht warum, aber ausgerechnet jetzt musste ich an Fabi, den Zwerg, denken. Immer wenn ich ihn sah, spielte oder kiffte er.

|102| Zehn
    Sam sah aus wie ein Ninja. Er hatte sich ein blaues Bandana über Mund und Nase gebunden. Nur seine Augen lugten zwischen Tuch und dem New-York-Cap hervor. Er trug Wollhandschuhe, »wegen Fingerabdrücken und so«. In diesem Moment nahm Schenz seine neue Ray-Ban-Sonnenbrille ab. Die Schwellung um sein Auge hatte nachgelassen, doch von seinem Nasenrücken aus zog sich jetzt ein lila-rot-bläulicher Bluterguss hinüber bis zur Schläfe. »Die ist echt«, sagte er und deutete auf die Sonnenbrille.
    Es war ein heller Tag, die Sonne brannte durch den weißblauen oberbayerischen Nachmittagshimmel auf Leos Visage hinab und Leo blinzelte zurück, als kommuniziere er direkt mit dem Stern über ihm. Sicher hätte er jetzt gerne etwas über Erich von Däniken erzählt, aber das war gerade unpassend. Die Hose, die er im Skaterladen geklaut hatte, war an ihren Enden bereits eingerissen, weil sie ständig über seine Schuhe fiel und er mit jedem Schritt darauftrat. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf sie auf den Bürgersteig. Dann sog er die Sommerluft ein und dabei vibrierten wirklich seine Nasenflügel ein bisschen. Er sah aus wie ein Tier.
     
    |103| Wieder sprang Leo als Erster über das Gartentor, das inzwischen fast vollständig von der Hecke umwachsen war. Wir folgten ihm.
    Hin und wieder summte eine Biene über das kniehohe Gras und den Löwenzahn hinweg. Wir öffneten die Terrassentür und atmeten die moderige Luft ein. Wir kannten uns aus, wir wussten, was auf uns zukam, wir fühlten uns wie Profis. Ohne ein Wort zu sagen, gingen wir die Treppe hinauf. Die Sperrholztür im ersten Stock stand wie die letzten Male offen. Wir waren drin.
    Sofort schwärmten wir aus. Sam nach hinten ins Wohnzimmer, dort, wo sich der Balkon befand. Schenz ging in die Küche und ich hörte das Geschirr klirren, als er die Schranktüren aufriss. Leo und ich gingen ins Schlafzimmer, Leo zog die Schublade der Bettkommode heraus und schüttete den Inhalt auf das Laminat. Hastig sah ich ihn ein paar Ringe und Armreifen vom Boden aufklauben und in seinen riesigen Hosentaschen verschwinden lassen. Ich hob die Matratze ein Stück nach oben, bückte mich und klemmte sie über meine rechte Schulter. Niemand sprach ein Wort, wir gingen vor wie ein Sondereinsatzkommando bei einer Wohnungsdurchsuchung. Jedenfalls fand ich uns ziemlich routiniert. In der Mitte des Betts lag ein Stapel Briefumschläge. Ich streckte meinen Arm so weit ich konnte, doch meine Finger waren noch immer eine halbe Armlänge von den Briefen entfernt, während die Matratze

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