Irgendwann passiert alles von allein
Müslireste. Es stank, sie stank. Alles, was sie tat, war hektisch. Sie tippelte durch eine vermüllte Wohnung, riss Schubladen auf, vergaß Essen und versteckte Geld. Das Gras im Garten wucherte, die Büsche ragten über die Zäune hinweg auf die Straße und die sauberen Gärten der Nachbarn, die sich natürlich darüber aufregten. Etwas trieb Hilde Stetlow an, zog sie auf, machte sie zu einem überspannten Uhrwerk, das jeden Moment zerbersten konnte. Ihre Nervenbahnen waren vom jahrelangen Tablettenmissbrauch verätzt, sie war boshaft geworden.
Das Licht schien nun genau auf mein Gesicht. Ich drückte den Joint-Stummel im Aschenbecher aus und mein Kopf fiel schwer zurück auf das Kissen.
Eines Tages hatte die Stetlow die Katze der Sommers bei einem ihrer Streifzüge gefangen genommen. Sie hatte das Tier gequält, getötet und schließlich im Keller vergraben. Dort, wo eigentlich schon längst Bauarbeiter einen anständigen Boden hätten verlegen sollen, wenn Hilde Stetlow nicht von einem absurden Geiz getrieben die Zahlungen für die Renovierungsarbeiten eingestellt gehabt hätte. Schnell hatte das Gerücht, die Stetlow, diese alte Hexe, töte Tiere, die Runde gemacht. Die Erwachsenen tuschelten, als sie die Alte sahen, die Kinder schrien »Hexe, Hexe!« und rannten halb schadenfroh, halb von einer panischen Kinderangst ergriffen vor ihr davon. Hilde Stetlow zischte |95| zurück. Eines Tages schließlich hatte die Stetlow zu viele Tabletten genommen. Ihr Herz pumpte, die Gedanken rasten durch ihren Kopf, sie fand kein Halten mehr, alles bog und dehnte sich auf ganz ungeheuerliche Weise, als ob jemand die Welt um sie herum an zwei Enden aufgespannt hätte und sie nun bis kurz vor dem Zerspringen zusammenbog. Sie ging auf die Straße, sie trug nichts außer ihrem verschmutzten Kittel. Alles um sie herum, der Asphalt der Straßen, die Hecken der Gärten und die Mauern der Häuser bogen sich, als läge eine gewaltige Last auf ihnen. Hilde Stetlow sah den Moment des Zusammenbruchs kommen. Er kam in Gestalt eines Rauhaardackels. Es war der Dackel der Utzschneiders.
Das Telefon klingelte.
Ich zuckte zusammen. Nach dem dritten Klingeln hatte ich mich aus meinem Bett und dem Dämmerzustand geschält, nach dem fünften Klingeln hob ich zitternd den Hörer ab.
»Hilde?«
»Spinnst du?«
»…«
»Was? Wer ist Hilde?«
»Nichts, ’tschuldigung, ich habe schon geschlafen.«
»Es ist halb zwölf.«
»Ja, eben«, sagte ich.
»Um welche Uhrzeit gehst du denn ins Bett? Ich schlafe nie vor zwölf.«
»Sina, ich äh, ich weiß nicht. Ich normal um eins.« |96| Das war gelogen, ich ging selten nach zwölf Uhr ins Bett, doch das klang irgendwie verdammt uncool.
»Um eins? Jetzt ist es aber erst halb zwölf.« Sie schaffte es, dass ich mir selbst bei einer solchen Kleinigkeit vorkam wie ein Lügner. Irgendwie schaffte sie es, mir innerhalb von zwei Sätzen ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich musste an Schenz denken. Sie musste ihn kontrollieren, ihn … mich … ich riss mich zusammen.
»Warum rufst du eigentlich an? Doch nicht, um mit mir darüber zu reden, zu welcher Zeit es cool ist, ins Bett zu gehen.«
»Ich dachte, vielleicht freust du dich.«
»Ja, klar freu ich mich, aber …«
»Hört sich aber nicht so an. Ist ja jetzt auch egal.«
»Was? Was ist egal? Natürlich freue ich mich, wenn du anrufst. Mich freut es immer, wenn du mich anrufst. Es ist nur … ich habe schon geschlafen und etwas Eigenartiges geträumt.«
»Von Hilde.«
»Ja, Hilde, aber … Nicht jetzt, was du denkst. Hilde ist, ach, das ist jetzt auch egal. Aber ich wollte eigentlich
dich
fragen, was egal ist. Also egal, ich … Du weißt schon … oder?«
Sina kicherte. Es klang blechern und doch lieblich durch den Telefonhörer.
»Was ist so lustig?«
»Nichts, du bist nur süß.«
»Süß?«
»Ja, niedlich irgendwie.«
|97| »Aha.«
Es schmeichelte mir, obwohl mir bewusst war, dass sie ein Spiel spielte. Und vielleicht wusste sie auch, dass ich wusste, dass sie es wusste. Nur änderte das alles nichts.
»Also was ist los?«
»Ihr wollt wieder in das Haus rein.«
»Nein! Das ist Blödsinn. Das kann man so nicht, äh, sagen. Wer sagt denn, dass …« Während ich redete, fiel mir ein, dass sie es natürlich von Schenz wissen konnte und es absolut lächerlich war, das Vorhaben zu leugnen. Ich sprach nicht mehr weiter.
»Er hat es mir gerade eben erzählt. Wir haben uns gestritten.«
Sie sagte eine Zeit
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