Irgendwann passiert alles von allein
lang nichts und ich sagte auch nichts, denn bei so was konnte ich ja jetzt nur verlieren, dachte ich.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Es ist nur … Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Ich weiß manchmal einfach nicht weiter.«
Ich sagte nichts.
»Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber bei dir habe ich immer das Gefühl, dass du mich verstehst. Ich … ich wollte dich nicht belästigen, ich weiß einfach manchmal nicht mehr weiter. Ich …«
Sie schniefte. Einmal, dann zweimal, dann schwoll alles zu einem Schluchzen an, das mich jetzt wirklich völlig überforderte.
»Sina«, ich erschrak über meine Stimme, weil ich nämlich säuselte. »Bitte, weine nicht! Was ist denn passiert? |98| Du kannst mir alles erzählen, wirklich, ich bin schon wieder hellwach, ich hör dir zu. Bitte, hör auf zu weinen. Es wird alles wieder gut.« Und dann sagte ich es. Ich sagte: »Er ist es gar nicht wert.«
Ihr Schluchzen stoppte, als hätte sie auf diese Worte gewartet. Ich hörte sie schniefen.
»Er ist ein Idiot«, sagte sie und zog die Nase hoch.
»Ein Idiot«, wiederholte ich.
»Er hat mich gar nicht verdient«, sagte sie.
»Hat er nicht«, wiederholte ich.
»So gut sieht er auch gar nicht aus.«
»Du wolltest mir erzählen, was passiert ist.«
Sie kicherte, was mich zwar freute, ich aber auch irgendwie verrückt fand: Ich meine, wie konnte sie im einen Moment weinen und im nächsten lachen? Sie erzählte. Als Schenz nach unserem Treffen nach Hause gegangen und Sina zu ihm gekommen war, hatte sie ihm Vorwürfe wegen seines blauen Auges gemacht. Sie sagte: »Alles, was einem widerfährt, ist das Resultat der eigenen Handlungen.« Sie sagte diesen Satz mehrmals, weil sie ihn gerade in irgendeinem Esoterikbuch gelesen hatte. Schenz sei daraufhin ausgeflippt. Er habe das Joypad der Playstation gegen die Wand geworfen und wie ein Affe gebrüllt. Er habe gesagt, dass er niemanden brauchen könne, der »nicht hundertprozentig« hinter ihm stehe. Sina habe daraufhin angefangen zu weinen und gesagt: »Das kommt alles nur von dem Geld. Es bringt Unglück.« Schenz habe geschrien: »So ein Quatsch! Dein Scheiß-Parfüm hat dir doch auch gefallen. Und das ist jetzt der Dank, oder was?«
|99| Sina wirft ihm vor, dass er überhaupt nichts versteht, und Schenz sagt: »Du wirst schon noch sehen.«
Sina fragt: »Was?«
»Wie geil du auf meine Kohle wirst. Morgen holen wir noch mehr raus.«
Sina sagt, er komme ihr in letzter Zeit immer öfter wie ein Hanswurst vor, der Geld braucht, um sein Selbstbewusstsein aufzupolieren.
Schenz baut sich vor ihr auf und sagt: »Nutte.«
Sina steht von der Bettkante auf und stellt sich vor Schenz hin. Sie holt aus, sie will seine Backe treffen, doch sie hat ihre Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle, ihre Hand trifft Schenz’ Auge.
Schenz winselt, ihr tut es leid, sie will »Schenzi« sagen, ihn trösten. Doch Schenz hört seinen Namen nicht mehr, er schlägt zurück.
Jetzt weinte sie wieder. Ich suchte nach irgendwelchen Worten, die ich ihr sagen konnte, um sie zu trösten. Und außerdem wollte ich auch sagen, dass es definitiv nicht okay war, Frauen zu schlagen. Also überhaupt nicht. Freundschaft hin oder her, so was machte man einfach nicht. Vielleicht wollte ich ihr auch sagen, dass ich ernsthaft darüber nachdenken würde, Schenz jetzt die Freundschaft zu kündigen. Aber ich sagte all das nicht.
Ich sagte nur: »Scheiße.«
Ein Hund läuft eine Straße entlang, links und rechts von ihm die gepflegten Reihengärten, die langen Einfahrten, an deren Ende ihm braun gestrichene Garagentore |100| den Weg versperren. Das Geräusch, das seine Pfoten auf dem Teer der Straße erzeugen, ist ein Taptaptaptap. Die Gärten sind tabu, der Hund weiß, er darf sie nicht betreten. Er trottet die Straße entlang, durstig, müde. Seine Zunge hängt ihm aus dem Maul. Die Straße kommt ihm ewig vor, er hat kein Ziel und keine Wahl, er muss weiter. Seine wunden Pfoten schmerzen vom heißen, rauen Asphalt. Ab und an bohrt sich ein kleiner Kieselstein in seine Pfoten hinein. Kein Hund, kein Mensch, keine Katze ist zu sehen, nichts außer Asphalt und Reihenhaus für Reihenhaus, nichts bietet seinen Sinnen Halt, kein Geruch, kein Geräusch, nur die ewige Monotonie der nicht endenden Reihe der immergleichen Häuser mit ihren für ihn versperrten Gärten und das sanfte Tapsen, das seine Pfoten auf dem Asphalt erzeugen. Taptaptaptap, taptaptaptap, taptaptaptap …
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