Irgendwann werden wir uns alles erzählen
hat sich auch nicht über meine Aufmachung gewundert: das Tuch um den Hals und die Strickjacke, wo es doch trotz der Abkühlung fast zwanzig Grad sind. Da nutze ich die Zeit bis zum Mittagstisch und gehe mit den Karamasows spazieren. Alexej hat doch tatsächlich Gruschenka besucht, obwohl ihm klar sein musste, dass sie ihn mit ihren Reizen zu Fall bringen wollte. Aber alles kam anders.
Ich liege im Gras hinterm Sägewerk. Die Worte im Buch tanzen und verschwimmen.
Jetzt holt mich der Schlaf wie ein Dieb, er kommt aus dem trüben Himmel und senkt sich schwer über meinen von der Liebe geschundenen Leib. Die Hände vom Henner sind jetzt wieder da – rau, sanft, brutal, fordernd, und ich sehne mich nach ihnen –
*
Als ich zurückkomme, sind die Kinder wach. Sie laufen über den Hof und schreien sich in kehligen Lauten Worte zu. Ich habe Mühe, sie zu verstehen. Gisela steht am Küchenfenster und sieht ihnen zu, dann winkt sie uns alle zum Essen herein. Dort sitzt Hartmut neben Frieda und hält ihre Hände in den seinen. Dieser Augenblick gehört ihnen allein. In dieser stummen Geste liegen das ganze Leid des verloren geglaubten Sohnes und die ganze Freude über die Wiederkehr. Die Küche ist zu klein geworden, wir anderen nur störend, ein Essen unmöglich. Ich ziehe mich wortlos zurück, hinauf ins Spinnenreich, in meine neue Heimat.
Etwas in mir ist heute Nacht gestorben.
Ich hole den Zettel heraus, den mir der Henner in den Koffer gelegt hat, und schreibe etwas auf die Rückseite. Dann stecke ich ihn zurück in den Umschlag und laufe so schnell ich kann zu seinem Haus. Dort steht das Fenster, aus dem ich gestern hinüber zum Brendel-Hof sah, noch immer offen. Den Umschlag werfe ich hinein.
Doch gleich in diesem Moment, als der Umschlag auf den Boden segelt, überkommt mich eine furchtbare Scham, und nachdem ich mich umgesehen habe und sichergegangen bin, dass niemand in der Nähe ist, klettere ich zu ebendiesem Fenster hinein, nehme den Umschlag an mich und will gerade wieder hinaus, als der Henner die Zimmertür öffnet. Zum ersten Mal zeigt sein Gesicht den Ausdruck von Erstaunen. Er hält in der Bewegung inne, er blickt zum Fenster, dann sieht er mich an, und dies ist der Moment, das weiß ich gleich, den ich nutzen muss, um davonzukommen. Ein einziger Augenblick kann ein Leben ändern. Sein Blick fällt auf den Umschlag in meiner Hand, da lächelt er plötzlich, und ich begreife, dass mir mein Zögern zum Verhängnis wird. Er kommt auf mich zu, nimmt mir den Umschlag aus der Hand, öffnet ihn, holt den Zettel heraus und liest laut die Worte: »… einmal kann er sie noch haben.«
Es gibt keine Worte für die unsagbare Scham, die meinen Blick zu Boden zwingt. Die Erde soll mich verschlucken. Ich stehe, und er schweigt. Ich weiß nicht, was mein stärkstes Gefühl ist: die unstillbare Sehnsucht nach einer weiteren Nacht wie der letzten, die Erniedrigung dieses Augenblicks und die Lust daran, die Angst, der Mädchenstolz und der Wunsch, diesen Stolz brechen zu lassen. Ich rühre mich nicht.
Er tritt einen Schritt näher an mich heran; er hat wieder getrunken. Sein Schnapsatem hüllt mich ein und haucht mir einen Schwindel in den Kopf und eine leichte Übelkeit.
»So, so«, sagt er nun langsam und fährt sich dabei mit der Hand über den kurz rasierten Schädel, »so, so, einmal kann er sie also noch haben. Hm.« Er geht an mir vorbei und schließt das Fenster. »So, so.« Vor der Tür sitzen die Doggen. Selbst sitzend scheinen sie mir fast so groß wie ich zu sein. »Hochmütig ist sie«, sagt nun der Henner. »Gewährt ihm also die Gnade eines letzten Besuchs … Nun denn, worauf wartet sie noch, zieh sie sich aus.« Ich starre ihn ungläubig an, versuche zu verstehen, was ihn gekränkt haben könnte, doch ich verstehe es nicht, noch nicht, und die Hunde bewachen die Tür. Er packt mich am Hinterkopf und zieht mich zu sich heran. Dann wickelt er den Schal von meinem Hals und hält inne. Er schaut, öffnet den Mund, er schließt ihn wieder. Seine Finger berühren die Male, die er mir gestern zugefügt hat, sein Blick fragt mich, ob es jemand weiß, ob Johannes es weiß, ob nun bald die Polizei ins Haus kommen wird, was ich tun werde, ob ich ihn verraten werde, ob nun alles aus ist? Alles.
Mein Schämen lässt nach. Ich warte auf ein Wort von ihm. Noch immer sieht er mich an und streicht über meinen Hals. Seine Augen sind vom Schnaps gerötet. Vielleicht denken wir beide das Gleiche.
Er ist vierzig,
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