Irgendwann werden wir uns alles erzählen
einmal wieder auf Wildfang war. Ich glaube, sie hat recht.
Kapitel 11
GOTT SEI DANK ist Johannes so aufgeregt über die Erlebnisse der letzten Tage, dass er meine Schweigsamkeit nicht bemerkt. Diesmal ist er es, der sprudelnd erzählt, von der Stadt, die noch immer schrecklich grau aussieht, und den Leuten, die er in der Kunsthochschule getroffen hat, und von der Fotografieklasse, die es dort eigens gibt. Er hatte auch Bilder dabeigehabt, und einer der Studenten habe ihm gesagt, sie seien wirklich gut, seine Bilder. Er hätte einen Blick für Licht und Komposition, das waren die genauen Worte. »Licht und Komposition!«, wiederholt Johannes gewichtig.
Und dann will er mir das Kleid ausziehen, und ich werde ganz steif. Doch weil ich meine Monatsblutung habe, muss ich nicht lügen. Das fing schon gestern an, beim Henner, und ich hatte nichts dabei. Er legte mir einfach dicke Tücher auf das Laken, wechselte sie oft und hat sich nicht geschämt dabei. Ich glaube nicht, dass der Johannes das könnte.
Schließlich reden wir über die Stadt und die Mappe, die Johannes vorlegen muss, wenn er sich an der Hochschule bewirbt. Eine Serie über das Dorf will er machen: die Bewohner und ihre Häuser; außen wie innen. Obwohl es nicht zu dokumentarisch werden darf, wie er sagt, Kunst muss es werden, und die sähe anders aus. Ich weiß nicht, worin sich ein Kunstfoto von einem dokumentarischen Foto unterscheidet, aber Johannes ist schon dabei, es mir zu erklären. Doch seine Worte erreichen mich nicht.
Später berichte ich von meiner Sommerarbeit in der Lindenschenke. Das ist ihm recht, denn er wird die meiste Zeit der nächsten Wochen mit Fotografieren und in der Dunkelkammer verbringen. Dort geht er auch gleich wieder hinein, und ich atme auf.
Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. Aber wer bin ich jetzt?
Die Hitze in unseren Zimmern treibt mich hinaus; die Brüder Karamasow nehme ich mit mir.
Unten im Laden steht heute der Lukas und hilft der Mutter. Marianne ist ausgesprochen schlecht gelaunt. Seit die Frieda in Bayern ist, hat sie doppelt zu tun. Eigentlich kocht Frieda für die ganze Familie, nun muss Marianne es selbst erledigen, und das, wo sie doch wirklich keine gute Köchin ist. Aber schon in einer Woche erwarten wir die Frieda zurück. Einmal hat sie angerufen, drüben im Konsum, da ist die Marianne schnell hinübergerannt. Glücklich hätte sie nicht geklungen, hörten wir später, eigentlich hätte sie nur genörgelt.
Nun kommt die Rede auf das fehlende Fleisch, das ich dem Henner gebraten habe und das ihm so gut schmeckte, und Marianne sagt streng: »Es ist ja schön, wenn du deiner Mutter etwas mitbringen möchtest, aber einfach nehmen, ohne zu fragen, geht nun wirklich nicht.« Da hat sie absolut recht, und ich schwöre hoch und heilig, beim nächsten Mal um Erlaubnis zu bitten.
*
Draußen auf den Wiesen ist das Gras schon längst wieder hoch gewachsen. Wir haben August, eine weitere Heuernte steht an. Ich liege mit den Karamasows am Flussufer und stelle beim Lesen fest, dass mir das alles bekannt vorkommt, obwohl ich es doch noch nicht gelesen haben kann. Dutzende Seiten lang geht das so. Ich bin ganz sicher, noch nicht so weit gewesen zu sein, ich hatte ja auch ein Lesezeichen darin liegen, und doch: Ich weiß, was kommen wird.
Dmitri ist nicht der Mörder. Es war der Diener Smerdjakow, wahrscheinlich ein uneheliches Kind des alten und nun toten Fjodor Karamasow, der auch noch behauptet, der mittlere Bruder Iwan habe ihm die Idee für den Mord eingegeben. Aber das entlastet Mitja keineswegs, da es keine Aussage gibt, und am Tag, bevor der Prozess beginnt, hängt sich Smerdjakow auf. Über Gruschenka wird gesagt, sie hätte beide ins Verderben gestürzt, den Vater und den Sohn. Vor allem die Frauen der Stadt sind voller Häme.
Über mir fliegen die Schwalben sehr tief – es wird regnen. Weiter hinten am Wehr sehe ich den Siegfried stehen. Sein Gemüt erhellt sich zunehmend; das hängt mit den großen Plänen zusammen, die er seit Tagen schmiedet. Alles dreht sich um die Worte biodynamische Landwirtschaft , davon sprach der Hartmut viel, und er sagte, in Bayern gebe es sogenannte Demeterhöfe , die würden auch nichts anderes tun als der Siegfried auf seinem Hof, bekämen aber ziemlich viel Geld für ihre Produkte. Allerdings stünde eine bestimmte Lebensauffassung dahinter, und der Name Rudolf Steiner fiel. Es ginge dabei um Lebenszusammenhänge und kosmische Rhythmen im Pflanzenbau . An der
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