Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Stelle hat es die Marianne fast zerrissen vor Lachen, und sie hat immer wieder die Worte kosmische Rhythmen wiederholt und ist dabei geheimnisvoll durch die Küche getanzt. Manchmal hat sie etwas Albernes an sich, obwohl sie schon so alt ist, na ja, aber doch noch jünger als der Henner, doch das ist etwas anderes. Hartmut hat sich jedenfalls nicht beirren lassen und diesen Steiner zitiert, der gesagt haben soll: »Eine Landwirtschaft erfüllt eigentlich ihr Wesen im besten Sinne des Wortes, wenn sie aufgefasst werden kann als eine Art Individualität.« Siegfried hat gleich verstanden, was damit gemeint war, Marianne gluckste noch immer vor Lachen, und Frieda und Alfred schüttelten die Köpfe. »Das ist eine Philosophie, Mutter«, mühte sich Hartmut zu erklären, doch da war nichts zu machen. Dann ging es noch um das Tier als beseeltes Wesen und die Bedeutung des Wiederkäuers für die Qualität des Bodens. Außerdem, so sagte es der Hartmut, müsse das Tier die Gelegenheit haben sinnlich-wahrnehmungsmäßig in Beziehung zu seiner Umwelt zu treten . »Das heißt«, fasste er feierlich zusammen, weil wir ihn alle fragend ansahen: »Das Rind muss auf die Weide!« Da gab es kein Halten mehr für die Marianne.
Siegfried hatte irgendwann die Nase voll vom Gegacker seiner Frau und dem Kopfschütteln der Mutter und ging zusammen mit Hartmut und Gisela hinaus auf die Wiesen. Das wiederum nahm seine Frau ihnen übel, und sie sagte zur Frieda: »Die glauben wohl, wir sind hier ein bisschen dumm im Osten, die mit ihren Seelentieren.« Dann aber hat sie ein Lexikon geholt und Demeter nachgeschlagen. Die Abbildung eines Gemäldes der Göttin fand sie doch schön und fragte, ob sie nicht auch ein bisschen wie die Demeter aussähe. Und tatsächlich, eine gewisse Ähnlichkeit war ihr nicht abzusprechen.
So, wie der Siegfried dasteht, die Beine fest auf dem Boden und den Blick über das Land schweifend, wüsste ich zu gern, was er gerade denkt.
Am Abend sitze ich wieder mit der Familie am Tisch. Der Alfred ist schon ins Bett gegangen. Seit die Frieda weggefahren ist, scheint er irgendwie krank zu sein. Es wird viel gesprochen heute, mehr als gewöhnlich. Siegfried plant, einmal einen solchen Hof zu besuchen und sich anzusehen, was daran so anders sei. »Das ist ja keine Zauberei. Das ist Landwirtschaft«, sagt er, und die Marianne nickt nun eifrig. Johannes erzählt von seiner Bewerbung an der Kunsthochschule, und wider Erwarten gibt es keine väterlichen Gegenworte, sondern nur den Hinweis, er solle sich das ruhig alles anschauen und, wenn es nichts Rechtes sei, eben wieder zurückkommen. Auf dem Hof gebe es in Zukunft viel Arbeit. Später trinken wir Wein zusammen, und dann gibt es noch einen Streit, der uns alle peinlich berührt.
Marianne trinkt selten Alkohol, aber wenn, dann fehlt ihr ein bisschen das Maß, und so trinkt sie eine ganze Flasche Wein allein. Wir sind redselig und lachen viel, und irgendwann kommt die Rede auf den Henner. Siegfried sagt, der Henner habe seine besten Jahre hinter sich, da käme nicht mehr viel. Der habe die DDR nicht verkraftet. Marianne verteidigt ihn und meint, er sei doch noch immer ein fescher Mann und in letzter Zeit auch viel umgänglicher geworden, etwas muss ihm geschehen sein, dass es ihm so gut geht, und wenn er endlich die Finger vom Alkohol ließe, dann könnte er den Hof sicher wieder auf Vordermann bringen. »Der gefällt dir wohl, der Henner?«, fragt Siegfried, und da sagt sie etwas, das ihr wohl der Wein eingeflüstert hat, aber vielleicht ist es auch eine tiefe Wahrheit. Sie antwortet: »Ich würd’ ihn nicht von der Bettkante stoßen, wenn ich dich nicht hätte, Siggi.« So sagt sie es wörtlich. Für den Siegfried ist das entschieden zu viel und auch für den Johannes, der seiner Mutter einen scharfen Blick zuwirft. Sie bemerkt es sofort und beschwichtigt, so gut es eben geht, aber gesagt ist gesagt, und der Abend ist verdorben. Und jetzt kommt noch ein Thema auf den Tisch, das sicherlich schon länger im Siegfried rumort, nun aber nicht mehr aufzuhalten ist. Es geht um das Haushaltsgeld. Seit einiger Zeit, und so etwas war früher nie vorgekommen, fehlt Geld in der Kasse. Dafür mehren sich im Badezimmer kleine, feine Cremetuben und Parfumfläschchen, und Zeitschriften liegen in der Stube herum mit makellosen Frauengesichtern auf dem Titelblatt. Das sind die neuen Begehrlichkeiten, die der Westen schafft und denen eine Frau wie die Marianne nur schwer widerstehen kann.
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