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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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sicher. Ich glaube, er weiß längst alles. Der hat seine Augen überall, grad deshalb, weil keiner ihn richtig ernst nimmt. Das macht ihn unauffällig.
    »Ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann. Die werden misstrauisch hier auf dem Hof, wenn ich schon wieder zu meiner Mutter rübergehe. Und was, wenn sie die Mutter mal in der Stadt treffen und nach mir fragen? Was dann?«
    »Das weiß ich nicht, Maria«, antwortet er achselzuckend, und darüber bin ich so maßlos enttäuscht, dass ich seine Hände von mir stoße und auf der anderen Seite des Ladentischs hinunterklettere. Er muss sein Versagen in meinen Augen sofort begriffen haben, denn er kommt herum, packt mich an den Handgelenken und sagt mit der Sicherheit, die ich hören wollte: »Du kommst trotzdem!«
    Dann hören wir das Auto in den Hof einfahren. »Tag, Henner«, sagt der Johannes, als er hereintritt. Er kommt hinter die Ladentheke und gibt mir einen Kuss, doch da ist er schon weg, der Henner. Das alles ist so elend, und ich tue es doch.
    Der Johannes fragt, wann es Essen gibt, aber drüben in der Küche ist noch nichts getan. Die Frieda fehlt hier, das merken wir alle. Ich mache mich ans Kochen; ich habe viel gelernt in den letzten Wochen, und später lobt mich der Siegfried und sagt, das hätte er mir nicht zugetraut! Mein Platz in der Familie festigt sich im selben Maße, wie ich mich langsam wieder von ihnen entferne. Doch für die feinen Dinge fehlt ihnen allen das Gespür. »Die Maria«, sagt der Siegfried, »wer hätte das gedacht.«
    Meinen Namen verdanke ich der Sehnsucht meiner Mutter. Als Kind eines Kommunisten betrat sie nur selten eine Kirche, doch einmal sah sie ein Krippenspiel, und das Mädchen, das die Maria spielte, beeindruckte meine Mutter so stark, dass sie sich fortan wünschte, Maria zu heißen. Sie ist ein »Fischkopf«, meine Mutter, und hier in Thüringen niemals heimisch geworden. Das ewige Auf und Ab der Hügel und Täler, das ich so sehr liebe, ist ihr ein Gräuel. Damals, als sie schwanger war mit mir, hat mein Vater ihre Sachen gepackt und sie einfach mitgenommen. Den ganzen Weg lang weinte sie und hörte erst wieder auf, als sie das Dorf erreichten, in dem ich geboren wurde. Eigentlich hätte sie ins Krankenhaus gehen sollen, aber weil der Vater und die Großeltern nicht da waren und sie es nicht mehr bis zum nächsten Telefon, das im Konsum stand, geschafft hätte, kam ich auf dem Fußboden der Großelternküche zur Welt. Im Nachhinein war meine Mutter gar nicht unglücklich darüber, denn wie sie von den anderen Frauen wusste, wurden die Babys im Krankenhaus gleich weggeschafft, und die Mütter bekamen sie nur alle vier Stunden zum Stillen gebracht. Mich konnte sie behalten. Tagelang hat sie mich nicht aus den Händen gegeben, nur hin und wieder einmal in den Stubenwagen gelegt, aber auch nur, um daneben zu sitzen und mich anzusehen. So weiß ich es von der Großmutter, die damals tüchtig darüber geschimpft hat. Aber davon sagt sie jetzt nichts mehr.
    Wir sind später so oft wie möglich in den Norden gefahren, und immer gab es viele Tränen beim Abschied. Dort oben, bei den Großeltern, habe ich das erste Mal den Westen gesehen. Wir haben einen Ausflug in die kleine Stadt D. gemacht. Der Grenzstreifen mit dem hohen Stacheldrahtzaun schloss direkt an eine der Straßen der Stadt an. Dort wohnte ein Verwandter meiner Mutter in der dritten Etage eines Mietshauses. Von den Fenstern aus sah man hinüber in den Westen. Hinter der Elbe und den Wiesen stand ein einzelnes Haus, und niemals würde ich dort hinübergehen können. Ich erinnere mich ziemlich genau an den Gedanken und das Gefühl. Ich muss so etwa sieben gewesen sein, und ich konnte die Augen nicht abwenden von diesem Haus. Es war so unbegreiflich, dass nur ein paar Hundert Meter entfernt Menschen lebten, die wir niemals würden treffen können. Wir konnten sie ja fast sehen! Und sie uns auch. Wir hätten uns also winken können oder Lichtzeichen geben, wie ich es immer mit meinem Freund machte, der zu Hause im Dorf im Nachbarhaus lebte. Mein Magen verkrampfte sich, und ich weiß noch, dass ich den Kuchen, den es gab, nicht essen wollte, obwohl er mit Erdbeeren war.
    Und als wir uns vom Onkel verabschiedet hatten, die Treppen hinuntergestiegen waren und auf die Straße traten, da rannte ich hinüber zum Zaun und steckte die Nase durch das Gitter. Meine Mutter rief mich zurück und zerrte mich schließlich weg, und die Schäferhunde hinter dem Zaun kläfften, und ein

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