Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Hof, vorbei an den Kühen und dem neuen Kälbchen, durch die Scheune hindurch zu seinem Auto, einem Lada, und er holt ein großes Geschenk heraus, das in goldenes Papier geschlagen ist.
»Was machst du denn morgen? Feierst du mit dem Johannes?«, fragt er zum Abschied.
Da spüre ich plötzlich den Drang, ihm alles zu sagen, wirklich alles. Er wird mich nicht verachten, das weiß ich. Er ist mein Vater. Er wird es verstehen. Doch da steigt er schon ein und braust davon.
Kapitel 14
MEIN HERZ KLOPFT schon beim Erwachen unnatürlich schnell. Nun bin ich siebzehn. Johannes ist extra eher aufgestanden und hat Frühstück von unten geholt. Wir bleiben im Bett und essen frische Brötchen mit Marmelade und Joghurt mit Honig, dazu trinken wir Kaffee und Orangensaft. Es ist noch sehr früh, der Johannes muss gleich mit der Arbeit beginnen. Draußen höre ich Marianne schimpfen, wo er denn bliebe, sie könne doch nicht alles alleine machen! Sie weiß, wir können sie hören. Sein Geschenk an mich ist ein Foto in einem selbst gebauten Rahmen. Darauf bin ich zu sehen, wie ich im Gemüsegarten stehe, hinten am Zaun. Ich trage ein kurzes Kleid mit meiner weißen Strickjacke darüber und schaue rüber zu den Bahnschienen. Das Licht ist mild und etwas trübe, es dämmert zum Abend hin. Alles darauf ist unscharf, bis auf mein Gesicht. Ich kann mich nicht entsinnen, wann er dieses Bild gemacht hat. Bemerkt habe ich es jedenfalls nicht. Ich danke ihm überschwänglich und scheuche ihn raus auf den Hof.
Dann hole ich das Geschenk meines Vaters. Auch das ist ein Bild. Ein furchtbar buntes abstraktes Ölgemälde irgendeines russischen Künstlers. Zuerst sehe ich nur Farben, doch nach und nach tauchen aus dem Gewirr Figuren auf, die rund um eine weibliche Gestalt in der Mitte angeordnet sind: ein einzelnes Auge, ein Herz, ein Kreuz. Die Frau hat leuchtend rotes Haar und trägt einen mit Blumen geschmückten Sommerhut, dessen Ränder in ein Farbenmeer aus Grüntönen übergehen. Ihre Brüste sind nackt, und links neben ihr zeichnet sich das Gesicht eines orthodoxen Priesters ab. Vor dem Priester kniet ein Mann und hebt seinen Blick zu der Frau. Eine große Hand legt sich um seinen Hals. Dann verschwimmt alles in grellem Rot. Ich brauche nur einmal zu zwinkern, und alles ist wieder reine Farbe ohne Gestalt. Nun wird es mir wieder elend, und ich packe das Bild zurück in das glänzende Papier und lege es unter das Bett.
Ich habe noch genug Zeit. Wenn ich gleich hochginge zum Henner, dann blieben uns fast zwölf Stunden bis zum Dunkelwerden. Doch ich muss noch zur Mutter laufen.
Johannes wird mindestens bis zur Dämmerung beschäftigt sein; ihm geht die Arbeit nicht so leicht von der Hand wie dem Vater. Ich ziehe mein schönstes Kleid an, ein weit ausgestelltes, hellgrünes, um die Brust eng anliegendes Baumwollkleid mit kleinen rosa Blumen darauf. Es ist selbst genäht, nach meinen Wünschen. Der Oma Traudel war es ein Dorn im Auge, dass ich öfter Hosen trug, wahrscheinlich weil sie selbst in ihrem ganzen Leben noch niemals eine Hose getragen hat, nicht einmal im eisigsten Winter. Und weil es im Dorf zwei Schneiderinnen gibt, hat sie Stoffe gekauft, und ich habe mir aussuchen dürfen, was ich haben will.
Die Haare bürste ich so lange, bis sie glänzen. Dann schlinge ich sie zu einem einfachen Knoten im Nacken. Auf der Treppe begegne ich der Frieda und dem Alfred. Sie gehen gerade hinunter in den Hof. Sie gratulieren mir, und die Frieda holt einen Umschlag aus der Küche. Es sind zwanzig Westmark darin.
Dann laufe ich, so schnell ich kann, zur Mutter. Sie hat schon gewartet und einen Blumenstrauß auf den Tisch gestellt. Auch die Traudel und der Lorenz sind da. Es ist schon fast acht Uhr, ich zähle die schwindenden Stunden und sitze wie auf Kohlen. Die Mutter schenkt mir ein Buch, eine Strumpfhose mit Pünktchen und ein schönes Schultertuch. Damit ich nicht immer eins von der Marianne nehmen muss, sagt sie. Wir essen Kuchen und reden über Belanglosigkeiten. Sie wollen mir die heiklen Themen wohl ersparen. Von den Großeltern bekomme ich auch einen Umschlag. Da ist das Gleiche drin wie in dem von der Frieda.
Ich stopfe den Kuchen hinein und sage immer wieder, wie gut er schmeckt. Und dann kommen mir die Lügen wie Liebenswürdigkeiten über die Lippen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Nicht einmal ein schlechtes Gewissen habe ich, mein Verlangen nach dem Henner ist einfach zu groß. Kurz vor halb zehn verlasse ich das Haus durch
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