Irgendwann werden wir uns alles erzählen
mein Denken und all mein Fühlen sind ganz bei ihm.
Wir fahren eine gute Stunde und erreichen eine kleine Stadt. Das Auto parken wir in einer Nebenstraße; dann laufen wir los. Der Henner trägt seine schmutzigen Schuhe und eine fleckige Hose. Nur das Hemd ist ausnahmsweise strahlend weiß. Er hat die Hände in die Taschen gesteckt und schweigt. Wir laufen durch eine breite Fußgängerzone mit unendlich vielen Geschäften links und rechts. In den Cafés sitzen Menschen, und manche sehen uns nach. Ich kann das spüren, diese Blicke im Rücken. Sie werden denken, er sei mein Vater, und ich habe ein drängendes Bedürfnis, ihn zu berühren. Doch ich tue es nicht.
Der Henner fragt mich, ob ich etwas kaufen möchte; er will mir etwas schenken, ein Kleid vielleicht. Ich betrachte die vorbeigehenden Mädchen und Frauen und überlege, was ich kaufen müsste, um ihnen ein wenig ähnlicher zu werden. Er geht neben mir, sein Blick ist ganz nach innen gerichtet, er sieht sie gar nicht, die anderen Frauen. Für den Augenblick genügen wir uns. Ich brauche keine neuen Kleider.
Weiter hinten, vor einem Café an einem kleinen Platz mit Springbrunnen, bleibt er stehen. Dort setzen wir uns. Noch immer überfordern mich die Möglichkeiten. Milchkaffee, Cappuccino, Espresso einfach und doppelt und normaler Kaffee in Tasse oder Kännchen. Der Henner schaut ebenso ratlos, und als die Bedienung kommt, erinnere ich mich an München und sage: »Zwei Milchkaffee bitte.« Wir trinken langsam und sagen nicht viel. Unter dem Tisch liegt seine Hand auf meinem Bein. Dann habe ich eine Idee und sage zu ihm, wie damals der Johannes zu mir, ich müsse »etwas besorgen« gehen. Das scheint ihn nicht weiter zu stören, er meint nur: »Geh nicht zu weit weg. Du kennst dich hier nicht aus.« Es wird dann aber doch lang dauern, bis ich zurückkehre, weil das, was ich suche, auch im Westen nicht so einfach zu bekommen ist. Irgendwie tröstet mich das.
Als ich wiederkomme, steht er vor dem Café. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und blickt um sich. Sein Gesicht wirkt beinahe versteinert. Ich trete vor ihn hin, seine Arme lösen sich, gleiten wie kraftlos herunter, straffen sich aber sogleich wieder, und die Hände ballen sich zu Fäusten.
»Verdammt, Maria, wo warst du denn? Ich dachte, dir ist etwas passiert.«
Ich möchte etwas antworten, doch ohne mein Geheimnis zu verraten, und so lüge ich: »Ich habe den Weg nicht mehr gefunden.«
»Verdammt, Maria, verdammt.« Mehr sagt er nicht. Dann packt er mich bei der Hand und zieht mich durch die Menschen vorbei an den schillernden Auslagen der Geschäfte, und ich hätte nun doch gern ein Paar Schuhe, die mir aufgefallen waren, als ich allein unterwegs war. Schwarz, mit einem kleinen Absatz und gekreuzten Riemchen über dem Spann. Doch er bleibt keinen Augenblick stehen, sagt auch nichts, und wir fahren wieder heim.
Unterwegs ist er mürrisch und schweigsam. Ich leide furchtbar. Hin und wieder sieht er zu mir herüber, bleibt jedoch stumm. Der Wolga ächzt und dröhnt, und in den Kurven wirft es mich hin und her, so schnell fährt er. Ich habe schreckliche Angst, er könnte mich gleich nach Hause schicken.
Irgendwann nach der Grenze jedoch, auf einer unserer holprigen Landstraßen, legt er seine Hand in meinen Nacken und streichelt mich mit seinen rauen Fingerkuppen, die sich wie Katzenzungen anfühlen. Da atme ich auf. Kurz vor fünf Uhr nachmittags kommen wir an, wir haben noch etwa drei Stunden.
Drinnen im Hof wird er gleich ruhiger; die Hunde springen an ihm hoch, und mit dem Schließen des Tores wird alles Verstörende ausgesperrt. Dann geht er in den Stall zu den Pferden.
Ich packe meine Tasche aus und beginne zu kochen. Als die Gisela bei uns war, hat sie der Marianne ein Rezept gegeben, von einer Hühnersuppe, die ganz besonders gut schmecken soll. Eine Wöchnerinnensuppe sei es eigentlich, sagte sie, aber das täte nichts, die schmecke den Männern auch.
Ich nehme zwei Hühnerkeulen und wasche sie sorgfältig, dann lege ich sie in einen Topf mit etwa drei Litern Wasser. Dazu kommt das übliche Suppengemüse – Karotten, Sellerie, Kohlrabi –, einige Rosinen, ein Apfel, drei kleine Zwiebeln, sechs Zehen Knoblauch, eine Stange Lauch und die Zutaten, nach denen ich so lange gesucht hatte, dass der Henner ganz in Sorge geraten war: Datteln, Lotos- und Angelikawurzel. Schließlich gebe ich einen gehäuften Esslöffel Gemüsebrühe und Salz dazu, dann kocht die Suppe zwei Stunden
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