Irgendwann werden wir uns alles erzählen
die hintere Gartentür und laufe. Vorbei an der Kirche und dem Friedhof, vorbei an den letzten einsamen Häusern hinein in den Wald. Es gibt einen allerkürzesten Weg zu den Höfen. Er führt durch den Wald und dann die Felsen hinunter zum Fluss, über die Eisenbahnbrücke, die Schienen entlang bis zum Henner. Ich trage meine lederne Umhängetasche mit den Geschenken bei mir und mache mich an den Abstieg. Hier kommen die Städter oft zum Klettern her, mit Seilen und großer Ausrüstung, doch die brauche ich nicht. Ich hangele mich an kleinen schräg wachsenden Bäumchen hinunter, und als die Felswand steil wird, ziehe ich die Schuhe aus und mache es wie in den Kindertagen. Da sind wir oft hier hinunter- und hinaufgeklettert, und nur einmal ist jemand abgestürzt. Heiko hieß er, der hat sich das Schlüsselbein gebrochen, einen Arm und beide Fußgelenke. Er hatte ziemliches Glück damals. Ich aber komme völlig unversehrt unten an und laufe über die Bahnschwellen bis zur Brücke, halte mein rechtes Ohr auf das Gleis und warte den Zug ab, der sich summend ankündigt, renne weiter über die Brücke, an den Gleisen entlang, die Wiese hinauf bis zum Hof. Ich habe weniger als fünfundzwanzig Minuten gebraucht.
Doch als ich das Tor erreiche, fällt mir ein, dass ich ihm weder mein Kommen noch meinen Geburtstag angekündigt habe. Ich warte einen Augenblick. Mein Atem geht wieder ruhiger, und ich horche auf ein Zeichen aus dem Inneren des Hofs, der mich jedes Mal wieder ausspuckt wie einen störenden Fremdkörper.
Ich höre die Hunde. Sie müssen kurz hinter dem Tor gestanden haben; ihr Bellen ist so schnell so nah, da können sie nicht lang gelaufen sein. Jetzt muss ich nur noch warten, gleich wird er da sein. Doch es dauert eine Ewigkeit, bis ich endlich seine Schritte höre und das Knirschen der Steine unter seinen schweren Schuhen. Er öffnet das Tor einen Spalt weit und zieht mich sofort hinein. Dann schließt er es wieder. Jedes Mal, wenn ich sein Reich betrete, weiß ich nicht, wer ich sein werde, wenn ich es wieder verlasse. Draußen erneuert sich die Welt, doch hier steht die Zeit still.
Der Henner schiebt mich ins Haus hinein und die Treppen hinauf in ein Zimmer, das ich noch nicht kenne. Es ist das Zimmer seiner Mutter. Vor dem Fenster steht das Bett, und an den Wänden sind die Regale bis zur Decke voll mit Büchern. Die Leute aus dem Dorf haben untertrieben, das kommt selten vor.
Rechts in der Ecke steht ein Kachelofen, und auf dem Boden liegt ein gestreifter Webteppich. Das Bett ist frisch bezogen. Er setzt mich auf die Kante und tritt zwischen meine Beine. Er sieht mich von oben an, seine Hand hebt meinen Kopf, die andere öffnet seine Hose. Schon diese eine Bewegung, die Sicherheit des klaren Verlangens, macht mir einen alles auslöschenden Schwindel im Kopf, der jetzt vollkommen leer ist. Ich bin nun ein reines Gefühl.
Erst später finden wir wieder Worte, erst als die Körper gesprochen haben. Ich sage ihm, dass ich nun siebzehn bin, eine Frau, doch er lächelt nur darüber. Es ist noch nicht einmal Mittag. Wir liegen still, sein rechter Arm hält mich umfangen, unsere Füße berühren sich. Ich habe Angst, er könnte mich für alle Zeit verdorben haben; was soll noch kommen nach einem solchen Empfinden? Noch nie war ich so glücklich. Mein Körper zuckt und bebt, und ich dränge mich dichter an ihn. Es ist, als hätte er etwas vorweggenommen.
Der Henner holt mich zurück aus meinen Gedanken; er schlägt vor, einen Ausflug zu machen.
Draußen vor dem Tor steht der alte Wolga. Es ist ein Wunder, dass er noch fährt, er ist älter als ich. Gekauft hat er ihn erst kürzlich. Ich frage nicht, wohin es gehen soll, es ist mir ganz egal. Wir fahren den schmalen Weg bis zur Landstraße vor und biegen nach links ab. So müssen wir nicht am Brendel-Hof und der Lindenschenke vorbei. Ich bin müde, und das stete Brummen und Schaukeln des Wagens schläfert mich schließlich ein. Als ich aufwache, sind wir kurz vor der Grenze. Rechts und links stehen noch die Aussichtspunkte mit den Schießscharten, sie sind nicht mehr besetzt. Vor uns sehe ich die Grenzstation. Wir stoppen kurz, halten dem Beamten die Ausweise entgegen, er nickt, sein Blick wandert von mir zum Henner und zurück, dann fahren wir einfach durch. Das kommt mir noch immer unglaublich vor – dieses schrankenlose Weiterfahren –, nur langsam wird mir bewusst, was hier geschehen ist und was es für uns alle bedeutet. Der Henner ist jetzt wichtiger,
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